Was im Leben zählt
deshalb ins Ensemble verbannt wurden) hat den Handjive immer noch nicht im Griff. Aber Susanna hat nur tadelnd den Kopf geschüttelt und mich weggescheucht.
«Scotty hat sich freiwillig gemeldet», sagte sie mit nach oben gekräuselten Mundwinkeln. «Er bringt den Kaffee, und wir übermalen zusammen die Kulisse.»
«Nett.» Ich lächelte zurück.
«Ist doch nichts dabei», meinte sie, aber wir glaubten ihr beide kein Wort.
Also bin ich trotzdem hier, obwohl dies wahrscheinlich der letzte Ort auf Erden ist, an dem ich im Augenblick sein möchte: inmitten der Horde Menschen, die vor zehn Jahren bei der Landesmeisterschaft noch all ihre Hoffnungen auf Tylers Wurfarm gesetzt hatten, die uns zur Hochzeit ganze Schinken oder billige Messersets geschenkt und sich, als Tyler mich verlassen hat, mit Sicherheit die Ohren heiß telefoniert haben. Ich bin hier, um meiner kleinen Schwester beizustehen, weil sie in den letzten, finsteren Monaten dasselbe für mich getan hat.
Die Parade startet auf dem Parkplatz, auf den ich damals im Juli eingebogen bin, um mir mit Tequila das Hirn zu betäuben, weil ich keine einzige Sekunde Klarheit mehr ertragen konnte. Klarheit. Das Wort geht mir nicht aus dem Kopf, und ich muss fast lachen, denn was auch immer Ashley zu bewirken hoffte, sie hat genau das Gegenteil erreicht. Ich habe versucht, mein Gehirn runterzufahren, es daran zu hindern, ständig über ungelöste Fragen nachzugrübeln, die meine Visionen erst aufgeworfen haben, oder darüber, warum diese Fragen überhaupt eine Rolle spielen. Es passiert doch alles sowieso. Was hat es also für einen Sinn? Ich habe genug von den Themen anderer Leute – von Ashley und meinem Vater und Darcy –, von ihren Problemchen und Sorgen und Nöten. Ich habe genug von dem Mist der anderen, und ich bin nicht mehr bereit, mir das anzuschauen, bei Gott nicht! Nicht wenn dabei immer nur die Erkenntnis herauskommt, dass am Horizont noch mehr Mist auf uns wartet.
Ich sehe einem Zeitungsreporter zu, der Rektor Anderson interviewt, und entdecke direkt daneben das breite Grinsen von Rektor McWilliams aus meiner Zeit an der Westlake High. Sein Gesicht sieht inzwischen aus wie gegerbtes Rindsleder, und seine Dritten sind immer noch eine Nummer zu groß für seinen Mund. Gott, manche Dinge ändern sich tatsächlich nie.
Inzwischen haben sich mehrere Hundert treuer Fans versammelt, die meisten reich geschmückt mit rot-weißen Gesichtsbemalungen, lächerlichen Zauberhüten oder irgendwelchen anderen Schulkult-Utensilien. Am Rand, direkt vor dem Schnapsladen, ist eine Bühne aufgebaut, gesäumt von zwei großen Lautsprechern, aus denen Feedbackgeräusche ins Publikum schrillen. Heute ist einer dieser perfekten Herbsttage, an denen alles stimmt: klare, kühle Luft, leuchtend rotes Laub an den Bäumen und endlich der strahlende Sonnenschein, nach dem wir uns alle wochenlang gesehnt haben. Ich schaue mich um und frage mich, ob Ashley sich heute blicken lässt. Ich habe sie seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Sie ist vor einer halben Woche unangemeldet in meinem Büro aufgetaucht und hat mich beim Zeitschinden erwischt.
«Sie hatte einen Anfall», sagte sie, das Gesicht in die Hände vergraben. «Die Augen waren ganz verdreht, und ich habe den Notarzt gerufen …» Sie musste Luft holen. «Das war’s wohl. Sie kommt in die Hospizabteilung. Sie wird nie mehr nach Hause kommen.» Ashleys Blick fiel auf meine Wand mit den Polaroids, und sie versuchte zu lächeln. «Ich wünschte, ich wäre noch mal sechzehn.»
«Nein, tust du nicht. Du hast es gehasst, sechzehn zu sein.»
«Stimmt.» Sie zuckte die Achseln. «Aber zweiunddreißig gefällt mir auch nicht.»
Mir war klar, dass sie auf mein Angebot wartete, ihr mehr zu erzählen, darauf, dass ich ihr einen Schnellvorlauf in die Zukunft anbot, um ihr zu sagen, wann sie – wann wir alle – aus diesem tiefen Tal wieder herauskommen. Aber sie fragte nicht, und ich bot es ihr nicht an, denn ich hatte inzwischen wirklich begriffen, dass es keinerlei Garantie dafür gibt, dass wir jemals wieder aus diesem Tal herauskommen, und mal ehrlich: Wer will schon wissen, dass das Unglück vielleicht nie ein Ende nimmt?
Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue himmelwärts: Nicht der leiseste Hinweis auf den kommenden Sturm, der Tyler zurück in die Stadt fegen wird, dafür ganz hinten mein Vater, der winkt und sich langsam nähert. Er trägt sein Elks-Club-Jackett, bereit, mit seinen Kameraden durch die Stadt zu
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