Was im Leben zählt
jetzt?»
Tja, auf diese Frage habe ich ausnahmsweise auch keine Antwort.
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Vierundzwanzig
A ls Susanna am nächsten Morgen zu Austin fährt, um die Zwillinge abzuholen, haben wir immer noch nichts von Darcy gehört. Um Viertel nach sieben ruft Dante bereits zum zweiten Mal an, nachdem er ebenfalls zum zweiten Mal sämtliche Freunde abtelefoniert hat, außerdem die Bars, die trotz des Schneesturms bis spätnachts geöffnet waren, kurz, jeden, der ihm in den Sinn kam. Ich habe mich beim Wachdienst der Schule erkundigt, aber hinter den tröstenden Tasten des Klaviers im Musiksaal hat Darcy sich auch nicht versteckt. Der Busbahnhof ist wegen des Wetters geschlossen, und ich habe zur Sicherheit sogar am Flughafen angerufen, obwohl mir klar war, dass dort schon bei den ersten Anzeichen des Sturms sämtliche Schotten dichtgemacht worden waren. Aber es wäre typisch für Darcy gewesen, jedenfalls für die alte Darcy, bei den ersten – na gut, nicht den ersten, aber den widrigsten – Schwierigkeiten die Beine in die Hand zu nehmen und aus der Stadt zu fliehen wie ein befreiter Käfigvogel. Ich habe mit Luanne telefoniert, die die Neuaufnahmen im Krankenhaus überprüft hat, und mit meinem Vater, der nicht wirklich nüchtern klang, mir aber nicht nur schwor, dass er nichts von ihr gehört hatte, sondern auch, dass er keinen Tropfen angerührt hatte. Die Frage danach hatte ich eher nebenbei gestellt.
Ich bin bereits bei der dritten Tasse Kaffee, als Ashley mich in einer kurzen Verschnaufpause vom Sterbebett ihrer Mutter aus anruft, um mich wegen Tyler aufzumuntern und ein paar Hasstiraden gegen die Männerwelt im Allgemeinen vom Stapel zu lassen. Ich falle ihr ins Wort und erzähle, was passiert ist. Dass Darcy verschwunden ist und keiner weiß, wo sie steckt.
Ashley verstummt. «Hallo?», sage ich. «Hallo? Ashley, bist du noch dran?»
«Ja, ich bin hier», antwortet sie. Ihre Stimme klingt dünn, aber gleichzeitig bestimmt.
«Tut mir leid. Das musste einfach raus. Wie geht es deiner Mutter?»
«Du weißt, wo sie ist.» Im Hintergrund erklingt die Lautsprecheranlage des Krankenhauses.
«Deine Mutter? Natürlich weiß ich, wo sie ist. Es tut mir so leid.» Ich geniere mich dafür, jemanden mit meinen Problemen zu nerven, der selbst schon mehr als genug davon hat.
«Nein. Darcy! Du weißt, wo sie ist.»
«Weiß ich nicht! Ich wünschte, ich wüsste es, aber ich weiß es nicht!» Meine Stimme bricht.
«Doch. Du musst nur nachdenken. Dann weißt du es.» Jemand sagt etwas zu ihr, sie hält offensichtlich kurz den Hörer zu, dann ist sie wieder da. «Hör zu, ich muss Schluss machen. Ruf mich nachher an. Denk nach! Vertrau mir! Vertrau dir selbst! Du wirst sie finden.»
Dann ist die Leitung tot. Nur noch Rauschen dringt an mein Ohr. Ich lasse mich auf die Couch sinken und sinne über ihre Worte nach. «Denk nach! Vertrau mir! Vertrau dir selbst!» Ich lasse den Blick durch mein chaotisches Wohnzimmer schweifen. Überall zeugen wild verstreute Reste von Tylers Auszug. Zerknülltes Klebeband, die Fetzen kaputter Pappkartons, ein paar verstreute Münzen. Ich stehe auf und trete an den Kamin. Das Sims ist voll mit Fotos aus meinem alten Leben, weil ich es noch nicht über mich gebracht habe, sie wegzuräumen. Tyler und ich bei unserer Hochzeit; Tyler und ich bei Susannas Hochzeit; Tyler und ich bei seinem Meisterschaftsspiel in unserem Abschlussjahr. Ich nehme es zur Hand, streiche mit den Fingern sanft über unsere Gesichter – wie unschuldig wir alle waren, wie optimistisch – und donnere das Bild mit allem, was an Kraft noch in mir steckt, mit jeder Faser meines müden, erschöpften Körpers gegen den Kamin.
Das Glas zerbricht krachend, ein Scherbenschauer ergießt sich in sämtliche Richtungen, und das Bild fällt zu Boden.
Das Bild selbst ist ganz geblieben. Kopfüber lehnt es schräg an den Ziegelsteinen und schaut zu mir hoch. Aus diesem Winkel kann ich uns kaum noch erkennen, aber wir strahlen trotzdem alle fröhlich in die Kamera.
«Denk nach! Vertrau mir. Vertrau dir selbst.»
«Oh Gott!», sage ich laut. «Oh Gott! Oh Gott! Oh Gott!» Ich rase aus dem Zimmer, die Treppe rauf und in mein Schlafzimmer, auf der Suche nach meiner Handtasche. Irgendwo ganz unten muss Elis Kamera sein, unbeachtet seit unserem Ausflug in den Wald. Mit zitternden Fingern zerre ich das Kameraetui unter meinem Scheckheft raus, unter der Rolle Pfefferminz, unter der Einladung zur Prom Night, unter ein
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