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Was im Leben zählt

Was im Leben zählt

Titel: Was im Leben zählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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Empfangspersonal streiten, weil ihre leidenden Familienmitglieder offensichtlich ignoriert werden, dazu verdammt, trotz Verletzungen und Schmerzen auf diesen dämlichen Plastikstühlen zu warten. Wer von uns denkt schon jemals darüber nach, dass uns das Schlimmste wirklich jederzeit und überall zustoßen kann , denke ich. Wir glauben immer, solche Dinge passieren nur den anderen. Bis einem plötzlich draußen auf der unbeleuchteten Landstraße ein Reifen platzt und jemand eine Stunde später das auf dem Dach liegende Auto entdeckt. So funktioniert das Leben. Wieso will das niemand je begreifen?
    Die Ärzte haben Darcy durch eine Schwingtür geschoben, auf der in roter Schrift «NUR FÜR PERSONAL» steht, und uns bleibt nichts übrig, als zu warten. Ich konnte Ausdrücke wie «akute Hypothermie» und «massive Erfrierungen» aufschnappen, und Eli hat mir erklärt, dass sie versuchen werden, Darcys Körpertemperatur langsam zu steigern, sie von innen nach außen zu kochen, auch wenn er sich natürlich netter ausdrückt.
    «Woher weißt du das alles?», frage ich ihn.
    «Ich war vor ein paar Jahren mit meinem besten Freund in den Anden.» Sein Kopf neigt sich kaum merklich nach unten. «Es … na ja, es ist nicht alles glattgegangen.» Er fängt an zu erzählen, aber als eine kleine Lawine mit ins Spiel kommt, reißt er sich zusammen. Ich sehe, dass er mich beobachtet, meine wachsende Angst spürt. Er bricht seine Geschichte ab und nimmt meine Hand. «Das erzähle ich dir ein andermal», sagt er. «Für den Augenblick reicht es mit den traurigen Geschichten. Vielleicht fallen uns ja noch ein paar schönere ein.»
    Ich lehne den Kopf an seine Schulter, weil ich das Gefühl habe, das Gewicht mit dem Nacken nicht mehr halten zu können. Ich mache die Augen zu und versuche, an schönere Geschichten zu denken, aber mir fällt nichts ein. Fast unmerklich gleite ich in den tranceartigen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, als plötzlich jemand laut meinen Namen ruft.
    Ich reiße die Augen auf und sehe Tyler auf mich zulaufen, dicht gefolgt von Austin. Sie haben immer noch die Klamotten vom Umzug an. Tyler kniet sich hin und umarmt mich. Er stinkt nach schalem Bier und kaltem Zigarettenrauch. Seine Westlake-Wizards-Kappe sitzt schräg auf den ungekämmten, ungewaschenen Haaren, und als er wieder aufsteht und unschlüssig vor mir steht, erinnert er mich sehr – viel zu sehr – an meine Schüler. Ein großer Junge, der sich noch nie im Leben dem Erwachsensein gestellt hat oder den Dingen, die das Erwachsensein einem abverlangt. Vor vier Monaten hätte ich vielleicht genau das an ihm geliebt. Jetzt lege ich den Kopf schief und wundere mich.
    Eli räuspert sich, und ich stelle sie einander vor: Elis Blick ist eindeutig abschätzend, doch Tyler mustert nur völlig ahnungslos den fremden Mann, der mir geholfen hat, meine Schwester zu retten, weil mein eigener Ehemann nicht dazu in der Lage war.
    «Hör mal, ich muss los», sagt Eli und küsst mich auf die Wange. «Ich habe Besuch, und sie kennt sonst niemanden hier», sagt er stockend. Die Freundin , denke ich, aber ich frage nicht nach. Es ist nicht wichtig. Es ist nicht so wichtig, dass ich nachfragen müsste, denn wer immer sie auch ist, ich habe ihn angerufen, und er ist sofort gekommen, und mehr braucht es im Augenblick nicht.
    «Danke. Danke. Danke!», sage ich immer wieder, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Mir kommen die Tränen, ich fange an zu weinen.
    «Ich melde mich nachher. Sobald meine Freundin einen Rückflug ergattert hat», sagt er. Es hat vorhin schon aufgehört zu schneien, als wir Darcy endlich gefunden hatten. Gut möglich, dass die Stadt, der Flughafen, die Straßen, die Geschäfte schon bald wieder offen sind. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht bleibt sein Gast auch hier stecken, zusammen mit uns. Wir stecken nämlich alle ein bisschen fest , denke ich, umarme Eli ein allerletztes Mal und sehe ihn dann durch den Flur in Richtung Ausgang verschwinden, seine schlaksige Figur, seinen selbstsicheren Gang.
    Tyler nimmt Elis verwaisten Platz in der Plastikstuhlreihe ein. Tyler, mein richtiger Ehemann, der mich im Stich gelassen hat, tauscht den Platz mit dem Ersatzmann, der bei mir war. Er verschränkt seine Finger mit meinen, dreht mit der freien Hand mein Gesicht zu sich, streichelt mir über die langen, blonden Strähnen und dann drückt er die Lippen auf meine Nase, genauso wie früher, bevor alles anders war.
    «Es tut mir leid!»,

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