Was im Leben zählt
Nachmittag dagelassen hat, und meldet sich scheppernd zu Wort, sobald ich über eine Bodenschwelle holpere oder zu stark bremse. Er erinnert mich an das buchstäbliche und sinnbildliche Gewicht all dessen, was ich mit mir herumschleppe.
«Glaubst du wirklich, da ist sie?», bricht Susanna das Schweigen.
«Ich weiß nicht, wo sie sonst sein sollte.» Ich hoffe gleichzeitig, dass ich recht habe und dass ich nicht recht habe. Recht, weil ich sie in die Arme nehmen, mich bei ihr entschuldigen und sie nach Hause bringen will. Nicht recht, weil es draußen scheußlich ist und sich bei diesem Wetter überhaupt niemand im Freien herumtreiben sollte, von meiner Schwester in ihrem dünnen, mit Wodka besudelten Sweatshirt und den lächerlich dünnen Leggins ganz zu schweigen.
Westlake ist wie ausgestorben, eine Geisterstadt. Die Wettervorhersage hatte ausnahmsweise mal recht, und die Bewohner waren so klug, die Warnungen zu beachten. Fünfzehn bis dreißig Zentimeter Neuschnee, je nach Windrichtung, hieß es. Wir fahren an dunklen Ladenfronten und ausgestorbenen Kneipen vorbei, und ich frage mich, ob ich Tyler dazu kriege, noch Schnee zu schaufeln, ehe er morgen endgültig fährt, doch dann verwerfe ich die Idee. Nein, ich schaufle selbst! , denke ich, setze den Blinker und biege ab. Es ist zwar nur ein winziger Sieg, aber immerhin. Das schaffe ich. Das kann ich.
Ich stelle den Motor ab. Der Parkplatz liegt verlassen, keine Reifenspuren, keine Fußabdrücke. Sofort häuft sich der Schnee auf der Scheibe, und als wir aus dem Auto steigen, versinken unsere Stiefel. Die ersten Flocken bleiben auf den Kappen sitzen. Es wird nicht lange dauern, bis wir knöcheltief im Schnee stehen.
«Das ist ja eisig!», sagt Susanna. Vor ihrem Gesicht bildet sich eine flüchtige weiße Wolke. «Komm, wir müssen uns beeilen.»
Wir eilen, so schnell wir können, über den rutschigen Untergrund. Die Beleuchtung ist zwar so hell wie immer, doch das dichte Schneetreiben reduziert die Sicht gegen null. Wir halten uns die Hände vors Gesicht, als würden wir uns an einem strahlenden Sommertag die Augen beschirmen.
Die Grabsteine tragen weiße Kappen aus Schnee. Wenn es so weiterschneit, werden Worte, Widmungen, Namen, Daten, alles von Bedeutung, einfach verschwinden, ausgelöscht, bis ein Grabstein dem anderen gleicht, anonyme Symbole des Verlusts.
«Hier entlang», keuche ich und deute den Weg. Mir brennen bereits die Oberschenkel, so angestrengt versuche ich, im Schnee nur ja nicht den Halt zu verlieren. Wir laufen hügelabwärts. Die toten Äste der Bäume ragen schwarz über uns auf, der Himmel darüber ist eine Decke aus wirbelndem Weiß. Sobald ich den Grabstein meiner Mutter erkennen kann, fange ich an zu rennen, trotz der Angst vor dem Schnee, obwohl der tückische Boden mich jeden Moment ums Leben bringen kann.
«Darcy!», schreie ich. «Darcy?», brülle ich noch lauter.
Das Blut rauscht mir durch sämtliche Glieder, jeden Finger, jeden Zeh. Ich renne schneller und schneller, komme ins Rutschen, versuche verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten, und schlittere in voller Fahrt gegen den Grabstein meiner Mutter.
Susanna bleibt mir dicht auf den Fersen und rutscht von hinten in mich hinein.
«Scheiße!», sagt sie. Das trifft es. Kurz, bündig, prägnant.
Wir sehen uns hektisch nach Darcy um, nach irgendeinem Lebenszeichen, aber wir sind schließlich auf einem Friedhof, und bei einer Suche nach lebendigem Fleisch und Blut wird man hier wohl als Letztes fündig. Ich stemme mich gegen den Grabstein und stehe mühsam auf.
«Darcy!», schreie ich ein letztes Mal, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Dies ist der einzige Ort, an dem ich sie vermutet hätte, ein anderer sicherer Hafen fällt mir beim besten Willen nicht ein.
Ich seufze, und dann strömen mir ohne jegliche Vorwarnung stürmische, reinigende Tränen über das Gesicht, wegen all des Chaos, wegen dieser ganzen verdammten Scheiße hier. Sie laufen über meine eisig kalten Wangen, und obwohl ich sie nicht spüre, weiß ich, dass sie da sind. Ich wische sie mit dem Handschuhrücken weg, die Nasenlöcher sind verstopft, die Wimpern kleben zusammen wie geeistes Sahnebaiser. Susanna nimmt mich in die Arme und reibt mir den Rücken, bis die Tränen endlich versiegen.
«Ich bin total taub», sage ich und stapfe zurück zu dem Auto, das vollgestopft ist mit dem Abfall meiner Ehe.
«Wer nicht?», gibt sie zurück.
«Der Punkt geht an dich.»
«Und was machen wir
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