Was im Leben zählt
paar zerknitterten, nie gelesenen Memos aus der Schule.
Ich fahre das Laptop hoch, stecke die Kamera ein und warte ungeduldig darauf, dass der Bildschirm zum Leben erwacht.
Ja! Ich vertraue mir! , denke ich, während ich die Bilder absuche, nach Hinweisen dafür suche, wo Darcy sein könnte und wie ich sie retten kann, obwohl ich aufgehört habe, andere zu retten.
Beim allerletzten Bild des Homecoming-Konzerts bleibe ich hängen. Darcy macht einen fröhlichen Knicks ins Publikum, das Sonnenlicht fällt schräg auf sie, ein strahlendes Lächeln erhellt ihr ganzes Gesicht, so sehr, dass ich mich augenblicklich aufs Neue in meine kleine Schwester verliebe. Mit Blitz zu fotografieren war im Grunde unnötig, aber so wirkt alles noch strahlender; das Bild ist golden, glänzend, perfekt. Ich starre den Bildschirm an und warte. Ich warte, dass es über mich kommt, mich mitnimmt, mich rettet, damit ich sie retten kann.
Dann spüre ich es. Den Schmerz im Zeh, den aufwärtskriechenden Krampf, erst in den Waden, dann in den Oberschenkeln, dann im Bauch, den eisernen Griff ums Herz, den Blitz, der sich anfühlt, als wolle er die Lunge sprengen, und dann schließlich mein Bewusstsein, mein Gehirn, meine Synapsen.
«Vertrau mir! Vertrau dir selbst.» Ja. Vielleicht. Vielleicht kann ich das.
Diesmal ist es anders. Im Gegensatz zu sonst bin ich diesmal nicht gelähmt, meine Beine sind nicht bewegungslos. Diesmal habe ich sonderbarerweise die Kontrolle, anstatt wie sonst kontrolliert zu werden, und meine Füße gleiten über totes Geäst, über gefrorenen Schnee. Es ist kalt – das sagen mir die Atemwölkchen, die sich beim Gehen bilden –, aber ich friere nicht. Weil ich nicht wirklich hier bin, weil ich mich einfach nur durch Raum und Zeit bewege, durch das Leben eines anderen.
Der Wald um mich ist mir vertraut. Ich bleibe stehen, pflanze die Stiefel in den frischen Schnee und sehe mich um, auf der Suche nach Zeichen, nach Hinweisen. Einen Moment lang glaube ich, im gleichen Wald zu sein wie vor kurzem mit Eli. Doch der Hügel ist weniger steil und die Bäume stehen dichter. Dann wird es mir klar. Urplötzlich überkommt mich die Erinnerung. Ich bin überrascht. Überrascht, dass ich nicht von selbst darauf gekommen bin, überrascht, dass sie es nicht längst vergessen hat. Sie war damals noch so klein, gerade mal neun.
Dies ist der Wald, in den wir damals immer liefen, um unsere Mutter zu retten. Als könnten gestohlene Schnappschüsse der Natur ihr neues Leben einflößen. Aber mit neun oder siebzehn glaubt man noch an die Macht der Magie, an einen Balsam, der die Familie wieder heil machen kann. Weil man nicht weiß, was man sonst tun soll. Und weil man noch nicht weiß, was das Leben sonst tun kann.
Doch obwohl Darcy diese Lektion inzwischen gelernt hat, ist sie ausgerechnet hierher zurückgekehrt. Über den verborgenen Pfad, den wir damals immer gegangen sind, hoch zu dem Baum an dem rauschenden Bach, der jetzt sicher fast ausgetrocknet und gefroren ist. Dort haben wir eines Nachmittags unsere Brote ausgepackt, aus einer Thermosflasche kalte Limonade getrunken und in einem Anfall hemmungslosen Übermuts unsere Initialen in den Baum geritzt. Ob Mom wieder gesund wird, fragte sie, und ich sagte, ich würde es sehr hoffen, und dann wollte sie mit winziger Stimme wissen, was wäre, wenn nicht. Und ich gab keine Antwort, obwohl ich mich heute noch an meinen stummen Schwur erinnere, stumm, weil ich mich nicht traute, es laut auszusprechen: Ich werde mich um dich kümmern. Stattdessen lenkte ich sie mit dem Messer ab, mit der Schnitzerei, und sie fing nicht noch einmal davon an. Und nur ein paar Stunden später, noch ehe wir Zeit hatten, unsere Bilder zu entwickeln, brach meine Mutter auf der Veranda zusammen, und das war das Ende. Das Ende von allem.
Ich bin seitdem nie wieder dort gewesen.
Meine Beine bewegen sich schneller, springen über Buschwerk, fliegen über totes Holz. Ich weiß, wo sie ist. Natürlich weiß ich, wo sie ist. Ich bin die Einzige, die es überhaupt wissen kann, ich bin die Einzige, die sie jetzt finden, die sie retten kann.
Obwohl es Jahre her ist, haben die Bäume sich kaum verändert, die Pfade weben ein vertrautes Muster durch den Wald, und bald sehe ich sie – ein winziges Stückchen von ihrem lila Sweatshirt, derselbe Farbton wie ihre Haare, und dann ihr Gesicht, viel zu blass, fast blau, an einen Baumstamm gelehnt, es ist genau derselbe Baum. Die Initialen sind überwuchert; die Rinde hatte
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