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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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für ein neues Kommunalwahlrecht des Rheinlandes «erfunden» worden: einer Provinz, die politisch fortschrittlich, aber auch kommerziell und industriell weit entwickelt war. 1850 wurde es in das Wahlrecht zum preußischen Abgeordnetenhaus, der zweiten Kammer des Landtags, übernommen. Man schlug die (männlichen) Wähler nach ihrer Steuerkraft geordnet drei verschiedenen «Abteilungen» zu, so dass jede Abteilung dasselbe Steueraufkommen umfasste. Die Wähler in jeder Abteilung bestimmten dann ein Drittel der Abgeordneten. Wenn also zwei Unternehmer zusammen ein Drittel der Steuern ihres Bezirkes zahlten, konnten ihre Stimmen (je nach der lokalen Vermögensverteilung) gleich viel wert sein wie die von Dutzenden Kleinhändlern oder Beamten, oder von Hunderten Arbeitern. Zugleich handelte es sich um ein kompliziertes indirektes Wahlverfahren mit zwischengeschalteten «Wahlmännern». Trotz der vonSozialdemokraten und manchen Linksliberalen als skandalös angeprangerten Verzerrung überlebte dieser Zensus – auch im Widerspruch zum gleichen Männerwahlrecht bei den Reichstagswahlen seit 1871 – bis zum Untergang des Kaiserreichs 1918. Mit dem Ersten Weltkrieg ging das Zeitalter des Zensus zu Ende, weil die «Massen» jetzt weniger Furcht und Abwehr auslösten, sondern auf neue Weise mobilisiert wurden – auch gegen die Demokratie.
2 Individuum und Assoziation:
Tocqueville in Amerika
    Am 2. April 1831 brach Alexis de Tocqueville, ein französischer Adliger und Staatsbeamter, von Le Havre zu einer Reise in die Vereinigten Staaten auf. Sein offizieller Auftrag war es, die amerikanischen Gefängnisse zu studieren, die damals in ganz Europa zum Vorbild für Justizreformen wurden. Doch schon auf dem Schiff nahm er sich viel breitere Studien über Demokratie und Gesellschaft in den USA vor. Mit seinem Kollegen Gustave de Beaumont bereiste der gerade einmal 26-jährige neun Monate lang die Ostküste zwischen Boston und Washington, erreichte mit Kutschen und Dampfschiffen aber auch die Grenzen der europäischen Besiedlung in Wisconsin und gelangte über den Mississippi bis nach New Orleans. Zurück in Frankreich, lieferte er pflichtgemäß seinen Gefängnisreport ab – und verarbeitete seine Eindrücke zu zwei Bänden «Über die Demokratie in Amerika», die 1835 und 1840 erschienen.
    Wie viele andere europäische Besucher in dieser Zeit staunte Tocqueville über die Unterschiede zwischen Europa und Amerika. Obwohl sein eigenes Heimatland, Frankreich, seit der Revolution von 1789 unverkennbar im Aufbruch, in rapidem politischen und sozialen Wandel begriffen war, wogen die Traditionen dort schwer: eine immer noch sehr hierarchische Gesellschaft, die den Menschen eine klare Position zuwies; eine katholische Kirche als konservative Verbündete der Monarchie. In der amerikanischen Republik, so Tocquevilles faszinierter Eindruck, waren die Menschen auf ganz andere Weise frei und begegneten sich zudem, bei allen sozialen Unterschieden, in fundamentaler Gleichheit, sozusagen auf Augenhöhe und ohne die europäischen Regeln und Rituale von Rang und Unterwürfigkeit. Auch für die Französische Revolution war Freiheit und Gleichheit ein Begriffspaar, aber inAmerika schien beides auch praktisch, im Lebensalltag, zu konvergieren. Nicht primär als Theoretiker, sondern aus der Anschauung formulierte Tocqueville so ein zentrales Prinzip der modernen Demokratie: die gegenseitige Bedingtheit von politischer Freiheit und Gleichheit. Fast alle weißen Männer besaßen das Wahlrecht; in den kleinsten Provinzstädten gab es Zeitungen, die ein Forum für den Parteienstreit boten.
    Ãœber die politische Gleichheit hinaus erschienen ihm aber auch die Unterschiede von Besitz und Status geringer als in Europa. Er begegnete keinem Geburtsadel und weniger krasser Armut und beschrieb auf diese Weise das Ideal einer Mittelklassengesellschaft, mit der die Demokratie als Regierungsform geradezu eine Symbiose eingehen konnte. Während in Europa oft ein selbstsüchtiger «Egoismus» herrsche, zumal in den oberen Schichten, habe sich in Nordamerika ein neuer «Individualismus» gebildet, der die Freiheit des Einzelnen mit seiner Orientierung auf eine Gemeinschaft und das Gemeinwohl verbinde. Tocqueville bewunderte also einerseits Freiheit und Individualismus – den die Amerikaner andererseits einhegten, indem sie sich

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