Was ist Demokratie
unverzichtbaren «zivilgesellschaftlichen» Teil der Demokratie; die Abolitionisten würden wir eine «advocacy»-Gruppe nennen.
Tocqueville verwendete bewusst den Begriff der «politischen Gesellschaft» und machte damit darauf aufmerksam, dass sich Demokratie nicht nur in einer abgeschlossenen Sphäre der Politik vollzieht oder bloà eine Regierungsform, noch schärfer gesagt: eine Regierungstechnik darstellt. Sie lebt nicht nur «aus» dem politischen Interesse einer Gesellschaft, sondern vollzieht sich in ihm. Mit einem solchen Begriff von Demokratie hatten die Deutschen noch im 20. Jahrhundert lange ihre Schwierigkeiten, weil sie dazu neigten, «Staat» und «Gesellschaft» voneinander zu trennen: so wie der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der dem von der Bürokratie gelenkten Staat die bürgerliche Gesellschaft als ökonomische, nicht als politische, geschweige denn demokratische Sphäre gegenüberstellte â nur zehn Jahre vor Tocquevilles Amerikareise.
Demokratie reichte mit ihren Verästelungen sogar tiefer als in den Bereich der organisierten Gesellschaft mit ihren Vereinen, Kirchen, Reformgruppen. Sie hatte angefangen, die «Sitten und Gebräuche», wie man damals sagte, zu prägen. Wir würden heute sagen: Sie reichte über Politik in den Alltag hinein und prägte die Mentalitäten, die alltäglichen Umgangsformen, den Lebensstil. Die Ehrerbietung gegenüber Höherrangigen, beobachtete Tocqueville, zerbröselte. Auch ein Politiker, sogar der Präsident, konnte schonungslos und schärfstens kritisiert werden. Im Alltag, im Konsum, auch in den ästhetischen Präferenzen bildete sich ein Massengeschmack heraus. Die politische Gleichheit strahlte auf andere Bereiche des Lebens aus: auf Erziehung und Bildung oder die Beziehungen der Geschlechter. Wenn Demokratie im 20. Jahrhundert zunehmend als ein «Lebensstil» weit jenseits von Wahlen, Parlament und Regierung beschrieben wurde, war Alexis de Tocqueville ein Urahn dieser Idee.
3 Fundamentalpolitisierung:
Das allgemeine Interesse an der Politik
«Stell dir vor es ist Demokratie und keiner geht hin.» Dieser Spruch wird seit vielen Jahren immer wieder angeführt, wenn die Wahlbeteiligung erneut gesunken ist und überhaupt das Interesse der Menschen an Politik nachzulassen scheint. Er macht damit auf eine grundlegende Voraussetzung von Demokratie aufmerksam: Das Volk muss erst einmal regieren oder doch die politischen Verhältnisse mitbestimmen wollen, und dafür bedarf es eines Interesses an Politik. Wenn man nicht davon ausgeht, dass es sich dabei um eine Art natürlichen Instinkt der Menschen, um eine anthropologische Konstante handelt, ist dieses Interesse historisch keineswegs selbstverständlich. Oft wird die Geschichte der Demokratisierung anders herum erzählt: Monarchen und Autokraten halten das Volk gegen seinen Willen von der Herrschaft fern, bis sich dessen hartnäckiger Gestaltungswille schlieÃlich doch durchsetzt. Darin steckt eine Teilwahrheit. Ebenso aber mussten breitere Schichten der Bevölkerung â nicht nur Gebildete oder ohnehin herrschaftsnahe Eliten â ihr Interesse für Politik erst entdecken.
Bis zum 18. Jahrhundert war das in weiten Teilen Europas schwierig, weil die elementaren Voraussetzungen der Lebensführung andere Prioritäten setzten. Bis zu 80 Prozent der vorindustriellen Bevölkerung lebten vor allem in der Sorge um die tägliche Ernährung, um das eigene Ãberleben und das der Kinder. «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral», hat Bertolt Brecht einmal drastisch formuliert. Man kann Moral auch durch Politik ersetzen. Auch räumlich und kommunikativ blieb der Horizont der meisten Menschen eng begrenzt. Informationen aus der Hauptstadt kamen nur langsam in die Dörfer, während die Dorfbewohner oft nicht weiter als bis zur nächsten Markt- oder Gerichtsstadt reisten. Dennoch gab es schon vor der Revolution durch Kommunikation und Industrie Phasen tiefer existenzieller, im weitesten Sinne politischer Betroffenheit bis in die Unterschichten und die einfache Landbevölkerung hinein. Die wichtigste europäische Erfahrung dieser Art war die religiös-politische Mobilisierung in Reformation und konfessionellem Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts.
Das allgemeine Interesse an Politik, das wir bis heute oft als selbstverständlich voraussetzen, ist
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