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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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auf Institutionen verpflichteten, «die jeden einzelnen Bürger daran erinnern, dass er in Gesellschaft lebt». Besonders hob er die Vielfalt der Vereine und Assoziationen hervor: den freiwilligen Zusammenschluss in Vereinen, Parteien, Reformbewegungen; nicht zuletzt auch in religiösen Gemeinschaften, die nicht Teil einer quasi-staatlichen Hierarchie, sondern der horizontalen Verbindung untereinander waren.
    Als einem europäischen Liberalen aus adliger Familie erschien Tocqueville manches daran fremd oder allzu extrem. Er staunte darüber, dass eine gleiche, demokratische Gesellschaft gute Literatur und Kunst hervorbringen konnte. Er befürchtete, Gleichheit und Abstimmungsdemokratie könnten in eine «Tyrannei der Mehrheit» führen. Mit seinen Diagnosen bewegte er sich überhaupt auf der Schwelle zwischen der klassischen politischen Theorie, die hinter zu viel Freiheit den Despotismus lauern sah, und einer neuen, radikal modernen Sichtweise. Er bewunderte das demokratische Prinzip, doch in seiner Folge würden die Amerikaner, nach den großen «Gründervätern» des späten 18.Jahrhunderts, keine bedeutenden Staatsmänner mehr hervorbringen und lieber die Mittelmäßigkeit in die politischen Ämter wählen. Das ist ein Beispiel für die Aktualität seiner Beobachtungen. Denn die populäre Kritik an der Demokratie schwankt bis heute öfters zwischen der Klage über die Durchschnittlichkeit der Politiker einerseits, der elitären Abgehobenheit einer politischen «Kaste» andererseits.
    Dennoch hat Tocqueville die amerikanischen Verhältnisse idealisiert. Er kam mit der Faszination des Fremden, und seine Gesprächspartner, bis hinauf zum Präsidenten Andrew Jackson, entstammten überwiegend den Führungsschichten, sei es in Washington, in New York oder in der Provinz. Obwohl er beeindruckend scharf Veränderungen beschrieb, die sich vor seinen Augen am Anfang der 1830er Jahre vollzogen, bekräftigte er den Mythos, die Amerikaner seien bereits gleich und demokratisch «geboren» worden. Heute weiß man, dass erst während der Jahrzehnte von Revolution und früher Republik alte Ungleichheiten und Abhängigkeiten über Bord geworfen wurden, vom Wahlzensus bis zu quasifeudalen Einrichtungen in der Landwirtschaft. Tocqueville sah die Sklaverei in den Südstaaten, von New Orleans bis Baltimore, maß ihr aber keine zentrale Bedeutung für sein Verständnis der amerikanischen Freiheit und Gleichheit bei. Wo er Indianern begegnete, prallten seine europäischen Vorurteile vom freien Wilden auf die bittere Realität von Abhängigkeit und Alkoholismus. Die gewaltsame Vertreibung zehntausender Indianer aus dem Südosten in das Oklahoma-Territorium begann 1831/32, während Tocquevilles USA-Aufenthalt. Aber den paradoxen Zusammenhang von Freiheit der weißen Siedler einerseits, Sklaverei und Vertreibung anderer «Rassen» andererseits mochte er nicht erkennen.
    Andererseits bleibt sein Buch lesenswert, sogar informativ, weil die historische Forschung viele der Diagnosen Tocquevilles bestätigt und natürlich verfeinert hat. Auch wenn man alle soziale Idealisierung abzieht: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Europa keine freiere, gleichere und auch in einem fundamentalen Alltagssinne «modernere» Gesellschaft als jedenfalls die Nordstaaten der USA. Vereine und Assoziationen erlebten tatsächlich zwischen 1830 und 1860 eine Blüte, häufig mit dem Ziel weiterer Liberalisierung, von politischen und sozialen Reformen. Religiöse Motive trieben die Mäßigungsbewegung gegen Alkoholkonsum an, aber auch die Abolitionisten, unter ihnen sehr viele Frauen, die vehement für die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten kämpften und Fluchtwege organisierten. Tocqueville lag auch nicht falsch, wenn er dem Vereins- und Assoziationsleben eine besondere Bedeutung für die Demokratie beimaß. In Europa vollzog sich derselbe Trend, in mancher Hinsicht sogar noch schärfer, weil der Eintritt in das Zeitalter der liberalen «Assoziation», also der freiwilligen Vereinigung, den Ausgang aus dem Zeitalter der «Korporation» bedeutete: also aus jenen Bindungen, in die Menschen hineingeborenwaren oder denen sie, ihrer sozialen Stellung nach, verpflichtend angehörten wie Handwerker einer Zunft. Heute beschreiben wir diese Netzwerke der freiwilligen Organisation als

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