Was ist Demokratie
aber erst ein Produkt des späten 18., vor allem des 19. Jahrhunderts. Historiker sehen in dieser Aneignung derPolitik durch ganze Gesellschaften einen so wichtigen Prozess, dass sie ihn häufig als «Fundamentalpolitisierung» beschreiben. Politische Informationen und politisches Interesse begannen auch in die Provinz zu reichen. Aus der Beschwerde gegenüber dem Gutsherrn oder Dorfbürgermeister wurde eine politische Forderung. Dabei spielten die Ausbreitung der Presse und die Verbilligung von Zeitungen und Magazinen, die sich zuvor nur eine Mittel- und Oberschicht leisten konnte, eine ganz wichtige Rolle. In den 1830er Jahren kam in England und Amerika die «Penny Press» auf: Zeitungen, die buchstäblich einen Penny kosteten und damit um ein Vielfaches günstiger waren als bisher üblich. Ihr Schwerpunkt lag zwar häufig nicht auf der Politik, sondern auf der Unterhaltung. Aber sie wurden doch zu einem Türöffner, und das Verhältnis zwischen Politik und Unterhaltung im medialen Massenmarkt ist bis heute ambivalent geblieben. Die neuen Märkte für politische Information und Debatten konnten ebenso zum Vehikel für politisches Interesse werden wie auch der Ablenkung von Politik dienen. Sie funktionierten â und das markiert eine weitere Voraussetzung â nur in einer «Massengesellschaft», in der die Stellung der Menschen nicht mehr ständisch-korporativ gebunden war.
Fundamental nennt man diese Politisierung auch, weil sie zunächst einmal unabhängig von bestimmten Ãberzeugungen und Parteirichtungen ist: Ob links oder rechts oder «Wechselwähler», auf das Interesse an Politik überhaupt kommt es an. Doch sehr bald bildeten sich Parteiströmungen und Weltbilder heraus und verdichteten sich zu konsistenten politischen Anschauungen mit allgemeinem Erklärungsanspruch, zu «fundamentalen» politischen Haltungen, die man seit dem frühen 19. Jahrhundert immer öfter als «Ideologien» bezeichnete. Die Zuordnung des eigenen politischen Interesses zu einer solchen Ideologie â man verstand sich, oft geradezu mit Haut und Haaren, als Liberaler, als Konservativer, als Sozialist â prägte in Europa besonders die Zeit zwischen den 1830er Jahren und der Mitte des 20.Jahrhunderts. Man muss aber vorsichtig sein, sie für ein notwendiges Element der politischen Interessiertheit, oder gar der Demokratie, zu halten. Jedenfalls darf die Verflüssigung dieser Ideologien in den letzten Jahrzehnten (und eine gröÃere Unsicherheit darüber, wo man selber politisch «steht») nicht mit Desinteresse verwechselt werden.
SchlieÃlich war die Politisierung des 19. Jahrhunderts fundamental, weil sie im sozialen Sinne bis in die Fundamente der Gesellschaft reichte: nicht auf die oberen Schichten begrenzt blieb wie weitgehendnoch während der Aufklärung, sondern die Unterschichten erreichte. Ohne elementare Bildung, jedenfalls Lesefähigkeit, wäre das schwer vorstellbar gewesen. Deshalb war die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht eine unerlässliche Voraussetzung für politisches Interesse, das sich ja erst im Mitvollzug von Informationen konstituieren kann. Seit der Jahrhundertmitte wirkte die Arbeiterbewegung als ein besonders wirkungsvoller Katalysator in der Politisierung der damals «neuen Unterschichten», der städtisch-industriellen Lohnarbeiterschaft. In ihren Gewerkschaften, Parteien, Bildungseinrichtungen, sogar in Sport und Freizeit trug sie maÃgeblich dazu bei, Politik und Demokratie aus dem Reservat von Bürgertum und Mittelschichten zu befreien. Seitdem die klassische industrielle Arbeiterschaft der westlichen Gesellschaften, besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, schnell geschrumpft ist und wiederum neue, heterogenere Unterschichten an ihre Stelle getreten sind, ist das politische Interesse tatsächlich wieder enger mit der sozialen Stellung verknüpft.
Was aber heiÃt es, sich für Politik zu interessieren? Wenn man sich die Geschichte des 19. Jahrhunderts näher ansieht, stoÃen klassische theoretische Erklärungen schnell an Grenzen: die anthropologische vom natürlichen Politiksinn aller Menschen ebenso wie die klassisch-liberale, die von spezifischen Interessen jedes Einzelnen ausgeht, die sich in politische Forderungen übersetzen. Politikwissenschaftler nennen das ein «rational choice»-Modell, aber das Verhalten der Menschen
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