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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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geht darin längst nicht immer auf. Vielmehr lassen sich drei Muster erkennen, die allesamt eher die Politisierung durch konkrete Erfahrung in spezifischen Lebenssituationen hervorheben. Erstens musste Politik, mussten nicht zuletzt die großen «Weltbilder» sich in persönlichen Problemlagen wiedererkennen lassen. Der eigene Lohn mochte einem schon immer zu niedrig vorkommen oder die bürokratischen Vorschriften zu kompliziert für den eigenen Handwerksbetrieb – es bedurfte aber einer Brücke, einer Übersetzungsleistung, die solche Erfahrungen in ein sozialistisches oder liberales Programm transformierte. Das lässt sich im 19. Jahrhundert an unendlich vielen Beispielen studieren; heute wirkt es als «Politik aus Betroffenheit» fort.
    Damit solches Interesse nicht schnell in der Sackgasse der Frustration endet, ist zweitens die Erfahrung, etwas bewirken und verändern zu können, entscheidend für die Festigung eines nicht nur sporadischen politischen Interesses. In jüngster Zeit haben sich dafür englische Begriffe wie «agency», also die Handlungsmacht des Einzelnen, oder das«empowerment» schwacher oder resignierter Gruppen bis in die Alltagssprache geschoben. Im 19. Jahrhundert nährten, viel mehr als im 20. Jahrhundert, Wahlen und Wahlkämpfe dieses Bewusstsein eigener politischer Hebelkraft. Revolutionen waren verdichtete Schübe, in denen das erregte Gefühl, in das Rad der Geschichte greifen zu können, politisches Interesse mobilisierte. – Einen dritten Erfahrungsraum bildete die eigene Herkunft: das Elternhaus, die Sozialisation. Wer in einer politisch sehr bewussten Familie aufwuchs, konnte später tatsächlich meinen, die Politik sei ihm oder ihr in die Wiege gelegt worden. So bildeten sich von der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Familientraditionen, in denen persönliche und politische Identität sich breit überlappten, und man war auf seine sozialdemokratische Herkunft oder die Verbundenheit mit dem katholischen Zentrum stolz.
    Diese Beispiele haben bereits anklingen lassen: Im 20. Jahrhundert setzte sich die Fundamentalpolitisierung nicht in gerader Linie, in immer weiterem Ausbau, fort. In Europa löste sich der enge Nexus von politischem Interesse und Demokratie ein Stück weit auf, als ein neuer Typus der modernen Diktatur die Politisierung der Gesellschaft auf die Spitze trieb, aber zugleich in Propaganda und Konformismus erstarren ließ. In der Bundesrepublik hatten viele nach der NS-Diktatur das Bedürfnis, sich dem politischen Zugriff auf die eigene Persönlichkeit entziehen zu müssen, und zogen sich in die schon von den Zeitgenossen beschriebene unpolitische Haltung der 1950er Jahre zurück. Dieses Bild ist nicht ganz zutreffend, weil die Bundesbürger in großer Zahl wählen gingen und sich millionenfach wieder in Parteien und Gewerkschaften organisierten. Aber es unterstreicht, dass Politisierung und Demokratie in einem komplizierten Verhältnis zueinander stehen. Auch die Unzufriedenheit und «Politikverdrossenheit» der letzten zwei bis drei Jahrzehnte ist, wie empirische Untersuchungen zeigen, mit Entpolitisierung oder einem Rückzug aus der praktizierten Demokratie nicht vorschnell gleichzusetzen; das Interesse an Politik ist in den meisten Demokratien, auch in Deutschland, weiterhin sehr hoch. Dennoch lohnt es zu erinnern, dass die Fundamentalpolitisierung ein historischer Prozess war, der nicht immer und überall weitergelten muss.
4 Die britischen Wahlrechtsreformen im 19. Jahrhundert
    Bis heute gilt England oft als das Mutterland der modernen Demokratie, mindestens im eigenen Selbstbewusstsein. Die parlamentarische Tradition seit dem späten Mittelalter ist beeindruckend, aber der Weg der Kontinuität hat auch vieles bewahrt, von dem sich andere Demokratien getrennt haben. Das «Vereinigte Königreich» ist weiterhin eine Monarchie und keine Republik. Ein allgemeines, demokratisches Wahlrecht selbst für Männer hat sich im 19. und 20. Jahrhundert langsamer, später und viel komplizierter durchgesetzt als in den USA oder Frankreich, aber auch als in Deutschland. So ist Großbritannien tatsächlich in vieler Hinsicht ein Sonderfall in der Geschichte der Demokratie, aber keineswegs nur als Pionier, sondern auch als Nachzügler. Den Reformen von 1832, 1867 und 1884 gilt dabei seit langem besondere Aufmerksamkeit,

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