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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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eher elitären liberalen Öffentlichkeit. Und erneut zeigte sich, dass Demokratie nicht «sich durchsetzte», sondern in heftigen Konflikten und gegen Widerstand erstritten werden musste.
    Mit dem Ergebnis, dem Reformgesetz von 1867, verdoppelte sich die Zahl der Wähler auf etwa zwei Millionen – immer noch erst 40 Prozent der erwachsenen Männer. Wahlberechtigt waren nun alle männlichen Haushaltsvorstände, die Kommunalsteuern zahlten. Das schloss immerhin – und darin liegt die Bedeutung dieses Reformschrittes – den Großteil der städtischen, industriellen Arbeiterschaft ein. Und wieder reduzierte das Gesetz die Vertretung kleinerer Bezirke und schuf neue, um die größeren Städte besser zu repräsentieren. Die Counties und Boroughs auf den britischen Inseln, deren Geschichte oft ins Mittelalter zurückreichte, waren aber nie bloße Wahldistrikte, deren Grenzen rein technisch für diesen Zweck gezogen und auch schnell wieder verändert werden konnten, wie das schon sehr früh in den USA der Fall war. Sie bildeten auch Einheiten der Justiz und lokalen Verwaltung, und sogar einzelne Universitäten verfügten über eigene Sitze im Unterhaus. Das machte den Übergang zu einem Wahlrecht, das sich an die einzelne Person knüpfte, viel schwieriger. Auch im dritten Schritt blieben die prinzipiellen Mechanismen der Repräsentation unangetastet: Das Reformgesetz von 1884 vollzog vor allem die Erweiterung der Wählerschaft auf die ländlichen Gebiete nach, die seit 1867 für die Städte galt. Jetzt waren immerhin schon 5,5 Millionen Männer wahlberechtigt. Aber die Regeln blieben sehr kompliziert; Stadt und Land blieben grundsätzlich unterschieden, und bei beiden gab es eine Fülle einzelner Kategorien: Man durfte als freier Grundbesitzer wählen, oder als Pächter dieser oder jener Art, oder als Haushaltsvorstand und Steuerzahler. Wer über Besitz in mehreren Bezirken verfügte, konnte auch weiterhin mehrere Stimmen abgeben. So handelte es sich bei dem britischen System, trotz seiner Besitzschranken, genau genommen noch nicht einmal um einen «Zensus». Denn ein Zensus wie der französische bis 1848 geht vom bürgerlichen Individuum als politischer Person aus, was im Vereinigten Königreich der Idee nach nicht der Fall war, auch wenn sich die Realität dem im Gesetz von 1884 weiter annäherte.
    Wie auch anderswo brachte das Ende des Ersten Weltkriegs den nächsten entscheidenden Schub, das vierte Reformgesetz von 1918. Dass Soldaten das eigene Land unter Einsatz des Lebens verteidigen – und als politisch nicht voll berechtigte Bürger zurückkehren, diese Vorstellungschien den meisten Engländern unerträglich. So erstreckte sich das Wahlrecht nun auf praktisch alle Männer ab 21 Jahren. Auf ungewöhnliche Weise überlappte sich diese Reform mit den Anfängen des Frauenwahlrechts: Britische Frauen durften nun ebenfalls wählen, mussten dafür aber 30 Jahre alt sein und einen minimalen Besitz nachweisen. Erst zehn Jahre später, 1928, wurden sie mit den Männern im allgemeinen Wahlrecht gleichgestellt. Aber erst 1948 räumte die Labour-Regierung unter Premierminister Clement Attlee mit den letzten Eigentümlichkeiten des britischen Wahlrechts auf, indem die Universitäten ihre eigenen Unterhaussitze verloren und das Mehrfachstimmrecht entfiel. So galt bei den Unterhauswahlen von 1950 zum ersten Mal überhaupt das Prinzip «one person, one vote».
    Ãœber die Gründe für diesen verschlungenen Weg der Briten zum allgemeinen Wahlrecht kann man lange spekulieren. An vorderer Stelle steht die lange Geschichte der parlamentarischen Tradition, die sich mit einem besonderen Verständnis von «Repräsentation» so eng verknüpft hatte, dass dieser Knoten nur schwer zu durchschlagen war – ganz anders als in Ländern, wo Parlamente, trotz mancher ständischen Vorläufer, als Vertretung des Volkes neu geschaffen wurden. So konnte ein Pionier der Demokratie, jedenfalls seiner parlamentarischen Komponente, im 19. und frühen 20. Jahrhundert von Nachzüglern wie Deutschland überholt werden. Auch in anderer Hinsicht nahm England eine Pionierrolle ein, die eine frühe Ausweitung des Wahlrechts nicht begünstigte. Während die USA das allgemeine Männerwahlrecht vor der Industriellen Revolution, vor der Entstehung einer millionenfachen

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