Was ist Demokratie
aber die schrittweise Ausdehnung des Wahlrechts setzte sich im 20. Jahrhundert, zwischen dem Ende des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, fort. Nicht weniger als sechs verschiedene Reformgesetze waren zwischen 1832 und 1948 nötig, bis das Prinzip «one person, one vote» uneingeschränkt galt.
Das erste «Gesetz über die Vertretung des Volkes» trat im Juni 1832 in Kraft. Ihm waren immer heftigere Reformforderungen von Liberalen vorausgegangen, denn seit dem 17. Jahrhundert hatte sich an Wahlrecht und Repräsentation des Unterhauses kaum etwas geändert. Das Wahlrecht war an Besitz geknüpft, und das Parlament vertrat nicht so sehr «Stände» im kontinentaleuropäischen Sinne (den Adel, die Bürger), schon gar nicht Individuen, sondern städtische und ländliche Wahlbezirke, wobei in den Städten zunehmend das Handelsbürgertum, auf dem Land der grundbesitzende Adel dominierte. Die meisten der städtischen «Boroughs» und der ländlichen «Counties» schickten mehrere Abgeordnete nach Westminster, zwei oder sogar vier. Die Einteilung der Counties und Boroughs vollzog die Veränderungen in Bevölkerung und Wirtschaftsweise â die im späten 18. Jahrhundert beginnende Industrialisierung, dann den Zug in die Städte â nicht mit, so dass in etlichen Bezirken, ländlichen und städtischen gleichermaÃen, am Vorabend der Reform nur wenige Dutzend Wähler existierten, im Extremfall weniger als zehn.
Um 1830 waren groÃe Teile Europas, ausgehend von der Französischen Julirevolution und dem polnischen Aufstand, in Bewegung. InEngland starb König Georg IV., und der Thronwechsel und die damit verbundenen Neuwahlen zum Unterhaus heizten auch hier die Debatte mächtig an. Im Parlament stritten Liberale und Konservative, Reformer und Traditionalisten; das Oberhaus versuchte bis zum Schluss fast jede Reform überhaupt zu verhindern. Vor allem aber etablierte sich die auÃerparlamentarische Ãffentlichkeit endgültig als neuer und moderner Faktor der britischen Politik: nicht nur als «gedruckte» Ãffentlichkeit, sondern auch in der Agitation von Vereinen und Reformgesellschaften sowie im massenhaften Protest von Menschen auf den StraÃen. In diesem Durchbruch zu einem modernen â und im weiteren Sinne «demokratischen» â Politikstil liegt die Bedeutung der «Reform Bill» von 1832 vielleicht sogar eher als in ihren konkreten Ergebnissen, die zumal für die Erweiterung des Wahlrechts mager ausfielen. In den ländlichen Bezirken blieb die Grenze von 40 Schilling für den Landbesitz bestehen; zusätzlich durften jetzt aber auch Pächter mit langfristigen oder erblichen Rechten wählen. Die Zahl der Wähler stieg von etwa 400.000 auf 650.000, das war rund jeder sechste männliche Erwachsene des Königreichs. Viele der kleineren Bezirke, der «rotten boroughs», wurden aufgelöst, dafür neue Wahlbezirke in Stadt und Land geschaffen. Für die gehobene Mittelklasse war die Reform durchaus ein Erfolg; Arbeiter aber blieben vom Wahlrecht ausgeschlossen und organisierten sich seitdem in der Bewegung der «Chartisten», die sich für das allgemeine Männerwahlrecht einzusetzen begann.
Die europäische Revolution von 1848/49 berührte England noch weniger als die von 1830, aber nicht zufällig kam in der Mitte der 1860er Jahre wieder Bewegung in die Wahlrechtsfrage. Auch anderswo, zumal in Deutschland, begann eine «neue Ãra» des Liberalismus; der Sieg des Nordens im amerikanischen Bürgerkrieg war ein Signal für die Reformer weltweit. Zu ihnen gehörten auch manche Konservative wie der Premierminister Benjamin Disraeli, der ähnlich wie Bismarck zur gleichen Zeit in Deutschland kalkulierte, dass ein GroÃteil des Volkes eher konservativ gesinnt sein würde. Noch mehr als eine Generation zuvor jedoch baute sich jetzt Druck «von unten» auf. Die «Reform-Liga» trat für ein allgemeines Wahlrecht ein, für manche wie den liberalen Politiker und Autor John Stuart Mill sollten darin sogar schon die Frauen eingeschlossen sein. In groÃen Städten Englands und Schottlands protestierten Hunderttausende für diese Ziele, allein 200.000 Menschen bei einer groÃen Demonstration im Londoner Hyde Park am 6. Mai 1867. Erneut änderte sich der Stil der Politik: hin zu einerPolitik der Massengesellschaft weit jenseits der noch
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