Was ist Demokratie
Regimewandel und Revolution zwischen 1905 und 1912 beinahe alle Kontinente: Russland, das Osmanische Reich, Portugal, Mexiko, China. Zugleich spülte sie eine neue Dynamik der Massenmobilisierung und direkten Partizipation in viele westliche Gesellschaften. Aber das überlappte sich bereits mit dem Streben nach rassischem Ausschluss und elitärer Führung, und die Revolutionswelle von 1905/12 mündete kaum in stabile Demokratien.
Tatsächlich ging es mit der Demokratie im 19. und 20.Jahrhundert nicht immer bergauf, schon gar nicht im 20. Jahrhundert. Aus dem Modell Huntingtons sind zwar meist nur die «positiven» Schübe herausgelesen worden, doch er selbst beobachtete eher eine Art Pendelbewegung: Auf die erste Welle sei eine erste «Gegenwelle» der 1920er bis frühen 1940er Jahre gefolgt, als viele der neuen europäischen Demokratien in autoritäre Regime und Diktaturen umschlugen und das «Dritte Reich» seit 1938/39 weitere Demokratien gewaltsam zerschlug oder im Krieg unterwarf. Eine zweite Gegenwelle habe die Zeit zwischen 1960 und 1975 dominiert. Viele der neuen, postkolonialen Staaten in Afrika, wie etwa das bevölkerungsreiche Nigeria, konnten ihre Demokratie nicht stabilisieren. Militärdiktaturen wie die von Augusto Pinochet in Chile seit 1973 prägten den lateinamerikanischen Subkontinent für etwa zwei Jahrzehnte. Huntington befürchtete sogar, auf die dritte Welle könne ein erneuter, gröÃerer Rückschlag folgen. Diese Sorge hat sich als unbegründet erwiesen. Auch die Geschichte der «Ent-Demokratisierung» entspricht nicht einer simplen Mechanik odereinem Geschichtsgesetz des Pendelschwungs, wie es immer wieder von Historikern aufgestellt worden ist, von Oswald Spengler bis Arnold Toynbee, häufig der «Urerfahrung» von Aufstieg und Fall des antiken Römischen Reiches folgend. Aber die Frage nach den «reverse waves» und tiefen Krisen der Demokratie, die in Europa besonders die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, verlangt gerade deshalb nach genauerem Hinsehen.
SchlieÃlich folgt das Wellenmodell einem relativ engen Begriff von Demokratie und Demokratisierung. Es geht um die Regierungsform und ihren Wechsel zwischen einem freien Wahlregime und autoritär-diktatorischen Formen, um politischen Regimewechsel also. Huntington orientiert sich damit an einer «prozeduralen», also die politischen Verfahren beschreibenden und «realistischen» Definition der Demokratie, wie sie Joseph Schumpeter oder Robert A. Dahl formuliert haben. Vielleicht wäre es sonst schwer möglich, die Ãbergänge trennscharf in eine Zeitskala einzutragen. So fundamental wichtig (aber teils auch unscharf) die Unterscheidung zwischen freiem und unfreiem Regime bleibt, hat sich das besondere Interesse von Historikern in letzter Zeit eher auf die diffuseren, komplizierteren Prozesse der inneren Demokratisierung gerichtet, die im politischen Verhalten, auch im Alltagshandeln oder in Mentalitäten zum Ausdruck kommen. War die Bundesrepublik mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Mai 1949 fertig demokratisiert oder bedurfte das einer längeren Zeit des Ãbergangs, des «Lernens» der Demokratie bis in die 1960er Jahre? Auf diese Weise gelangt man zu einer anderen Rhythmik der Demokratisierung im 20. Jahrhundert. So markiert Huntingtons zweite Gegenwelle von 1960 bis 1975 zugleich eine Phase beschleunigter und innovativer innerer, soziokultureller Demokratisierung in den westlichen Gesellschaften. Aber die Denkfigur der Wellen bleibt attraktiv â und entspricht immer wieder, nicht selten auf überraschende Weise, der Erfahrung von erlebter Geschichte. Das galt 1989 wie 2011, als der «arabische Frühling» rasch als eine «vierte Welle» der Demokratisierung beschrieben, vielleicht auch hoffnungsvoll beschworen wurde.
VI Krisen
Demokratie ist immer in der Krise. Zeiten ihrer unbefragten Selbstverständlichkeit hat es kaum gegeben, zumal in Europa. Nach 1945 wurde sie zwar zu einer Art Standardmodell â aber doch nur im Westen des geteilten Kontinents. Als sich am Ende des 20. Jahrhunderts auch Osteuropa demokratische Freiheit eroberte, hatten neue Zweifel vom Westen Besitz ergriffen. In ihre tiefste Krise geriet die moderne Demokratie, als eigentlich alles für ihren endgültigen Siegeszug sprach: mit dem Durchbruch einer Massengesellschaft, die alte soziale Hierarchien
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