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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Hinsicht gingen die Bundesrepublik und die DDR seit 1945/49 ein Stück weit parallel, denn für das Selbstverständnis des zweiten deutschen Staates und die Legitimation des SED-Regimes spielten seine sozialen Leistungen eine tragende Rolle.
    Man kann in NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR geradezu drei Varianten des deutschen Sozialstaatsmodells im 20. Jahrhundert sehen; jedenfalls setzte die DDR keineswegs nur sowjetische Rezepte um, sondern auch einen preußisch-deutschen Weg der sozialen Fürsorge aus obrigkeitlicher Gewährung fort; sie war, wie der Historiker Konrad Jarausch geurteilt hat, eine «Fürsorgediktatur». Darin spiegelt sich noch einmal die tiefe Ambivalenz des Verhältnisses von Sozialstaat und Demokratie. Die realsozialistische Rechtfertigung, den «bürgerlichen» Freiheitsrechten der kapitalistischen Demokratien stünden die eigenen, letztlich viel wichtigeren «sozialen Rechte» gegenüber, erweist sich vor diesem historischen Hintergrund als Zwilling einer konservativ-obrigkeitlichen Sichtweise auf soziale Sicherung, die Demokratie gar nicht erst nötig mache. Aber auch empirisch kann man unschwer erkennen, dass das Niveau der Sozialleistungen in den sozialistischen Staaten hinter den kapitalistisch-sozialstaatlichen Demokratien des Westens weit zurückblieb, in der DDR besonders eklatant bei den Renten und der Gesundheitsversorgung. So gesehen, war die Verschwisterung von Demokratie und Sozialstaat am Ende des 20. Jahrhunderts doch evident: Nirgendwo sind sozialstaatliche Leistungen mehr ausgebaut worden als in Demokratien.
    Trotz dieser zunehmenden Überlappung fällt es schwer, im modernen Sozialstaat, mit Gerhard A. Ritter, geradezu eine «besondere Form der Demokratie» zu sehen. Denn die fundamental unterschiedliche Zielsetzung einer freien Selbstregierung einerseits, von materieller Sicherung und Geborgenheit andererseits lässt sich zumal vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte nicht genügend betonen. Demokratie muss sich, wie Politikwissenschaftler sagen würden, dem Wettbewerb der Regime um die größte materielle Leistungsfähigkeit stellen, aber sie kann nicht zuerst an diesem «Output» gemessen werden. Im 20.Jahrhundert begegnet das Verhältnis von beiden in fast allen denkbaren Variationen: Ein schwacher Sozialstaat muss nicht auf eine schwache Demokratie hinweisen, und autoritäre Regime können eine relativ starke Sozialpolitik betreiben. Aber von Verstrebungen, die Sozialstaat und Demokratie fester miteinander verbunden haben, kann man sehr wohl sprechen. Dabei steht das Prinzip der Inklusion an vorderster Stelle: diestaatsbürgerliche Gleichheit, in der eine
politische
Bürgergesellschaft sich nur in der
sozialen
Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger voll erfüllt, aber auch umgekehrt politische Freiheit nicht mit sozialer Versorgung abgegolten ist. Kurz gesagt ist das die Wechselbeziehung von Sicherheit und Freiheit. Freiheit braucht Sicherheit, aber Sicherheit macht noch nicht frei. Gerade jenseits der westlichen Wohlstandsdemokratien gehören Freiheit und Sicherheit auf eine elementare Weise zusammen – wenn es nicht um Urlaubsansprüche und Rentenhöhe geht, sondern um den Zugang zu medizinischer Versorgung überhaupt, zu Trinkwasser, zu ein paar Schuljahren Bildung für alle. Der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen hat diesen Zusammenhang in seiner Theorie von Armut, Entwicklung und Demokratie hervorgehoben, indem er von individuellen «Verwirklichungschancen» spricht. In globaler Perspektive gesehen, stehen das sozialstaatliche Versprechen und die sozialstaatliche Expansion der Demokratie längst eher in Asien und Afrika auf dem Prüfstand als im alten Westen.
11 Die Wellen der Demokratisierung im 20. Jahrhundert
    Gleich welchen Begriff von Demokratie man zugrunde legt: Vor hundert, vor zweihundert Jahren gab es deutlich weniger demokratische Staaten als heute, war die Welt weniger demokratisch. Aber diese Expansion erfolgte nicht in gleichmäßigen und allmählichen Schritten. In bestimmten Phasen hat Demokratisierung sich beschleunigt und dabei häufig mehrere Länder oder ganze Weltregionen angesteckt; zu anderen Zeiten herrschte bestenfalls Stagnation.
    Der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington hat deshalb von «drei Wellen» gesprochen, die vor allem in der Geschichte des 20. Jahrhunderts die

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