Was ist Demokratie
einebnete; nach dem Ersten Weltkrieg, der jahrhundertealte Dynastien und Reiche wegfegte. Aber längst nicht nur in Deutschland galt die Demokratie als ein Auslaufmodell, das einer hochkomplexen und zugleich nivellierten Gesellschaft nicht mehr zu passen schien. Konnte sich der Wille des Volkes nicht auÃerhalb von Parlament und bürgerlichen Freiheiten besser verwirklichen? Am Ende dieser Krise stand die gröÃte Katastrophe der europäischen Geschichte. Aber manche tiefen Zweifel an der Demokratie nagten auch danach, und nagen bis heute weiter.
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1 Kein Triumph der Demokratie:
Die Massengesellschaft um 1900
Am Ende des 19. Jahrhunderts schien die Demokratie auf einem unaufhaltsamen Vormarsch. Die Zeit der groÃen revolutionären Erhebung im Namen von Freiheit, Gleichheit und demokratischer Mitbestimmung des Volkes war zwar vorbei; in den politischen Ordnungen der europäischen und nordamerikanischen Nationen herrschte, äuÃerlich gesehen, bis zum Ersten Weltkrieg Stabilität. Umso dynamischer veränderten sich aber die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse unter dem Einfluss von Hochindustrialisierung und rasanter Verstädterung. Um 1900 beobachteten die Zeitgenossen, euphorisch oder ängstlich, dass sich ein ganz neuer, moderner Aggregatzustand von Gesellschaft und Kultur herausbildete. In den pulsierenden, oft rasch wachsendenMetropolen wie Berlin und Paris, London, New York und Chicago, Wien und Budapest etablierte sich ein Lebensstil, der weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vorauswies: Arbeiter und Angestellte hasteten morgens zum Regionalzug oder auch schon zur Untergrundbahn auf dem Weg zur Arbeit, deren Ort immer häufiger das Büro statt die Fabrik war. Unterwegs griff man eine Zeitung; auf dem Nachhauseweg konnte man sich im Warenhaus neue Verlockungen des Massenkonsums anschauen; am Wochenende ging es vielleicht ins Theater oder bald auch ins Kino. Unterhalb der Verfassungsordnungen war auch das politische Leben in Bewegung. Die Möglichkeiten zur Mitgliedschaft in Vereinen, Parteien, Gewerkschaften hatten sich vervielfältigt; Politik war zum Massenphänomen geworden, nicht mehr nur die Sphäre einer kleinen Elite. Und überall boten Reformbewegungen nicht nur Gelegenheit zum eigenen Engagement, sondern betrieben, wie die Frauen- oder die Arbeiterbewegung, die weitere Expansion von Teilhabe und Demokratie. Wie auch immer manche heftig umstrittenen Grundfragen ausgehen würden, in Europa etwa die nach den langfristigen Ãberlebenschancen der Monarchie oder nach der Stellung des Adels: Dass man im weitesten Sinne in ein demokratisches Zeitalter eingetreten war, lieà sich am Beginn des 20. Jahrhunderts kaum mehr bezweifeln.
Eine der zentralen Erfahrungen der Menschen vor hundert Jahren war der Eintritt in eine Massengesellschaft. Dimension und Dichte dieser Masse faszinierten und schockierten â ganz konkret und alltäglich, im Gedränge auf dem Bahnsteig oder bei einer der neuen Sportveranstaltungen, für die man sich als Zuschauer in eine Halle oder ein Stadion begab. Dahinter standen Veränderungen der Bevölkerung und der Kommunikation. Die Sterblichkeit war gesunken, die Lebenserwartung stieg deutlich an, die Kinderzahl war einstweilen noch hoch â in diesem «demographischen Ãbergang» machte die Einwohnerzahl der meisten europäischen Länder vor dem Ersten Weltkrieg einen groÃen Sprung. In Amerika landeten zudem Millionen neuer Einwanderer aus Süd- und Osteuropa; anders als die Deutschen oder Skandinavier ein halbes Jahrhundert zuvor, blieben sie meist in den groÃen Städten. Aber auch in Europa verschob sich die Bevölkerung in die groÃen Städte, wo sich manchmal mehrere Zehntausend Menschen auf einen Quadratkilometer drängten wie in den Berliner Mietskasernen, im Londoner East End oder auf der Lower East Side Manhattans.
Neue Kommunikations- und Verkehrsmittel vervielfältigten die Zahl der möglichen Begegnungen und sozialen Kontakte auch über gröÃereDistanzen, von der Eisenbahn bis zum Telefon. Der Einzug der Elektrizität in den Alltag um 1900 machte viele Formen der Massengesellschaft, die heute selbstverständlich sind, überhaupt erst möglich. Man konnte, für Sportveranstaltungen oder politische Versammlungen, groÃe Räume beleuchten; man konnte Stimmen technisch so verstärken, dass sie ein nach Hunderten oder Tausenden
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