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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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zählendes Publikum erreichten. Entsprach nicht diese technisch-soziale Welt dem Zug zur Demokratie in der Politik? Schließlich hieß «Demokratie» damals, den antiken Bedeutungen des Begriffes folgend, für viele immer noch Herrschaft der Massen, der Vielen, im Gegensatz zur Elitenpolitik der Wenigen. Im Alltag der Großstädte und angesichts der neuen Technologien schien für Hierarchien jedenfalls der traditionellen Art – der ländlichen Gesellschaft, der Stände, des Adels – kein Platz mehr zu sein.
    Aber die Erfahrungen der Massengesellschaft waren ambivalent, und längst nicht alle Konsequenzen, die daraus am Beginn des 20. Jahrhunderts gezogen wurden, führten in eine demokratische Richtung. Für junge Männer und Frauen, die aus spätfeudalen Abhängigkeitsverhältnissen auf dem Lande in die Städte kamen – aus Süditalien nach New York, von einem ostelbischen Gut nach Berlin –, wirkten die «Stadtluft» und das Eintauchen in die große Masse befreiend. Aber als Arbeiter in der Fabrik oder auf dem Schlachthof, als Dienstmädchen im bürgerlichen Haushalt verspürten sie auch die Härte neuer Hierarchien. Die meisten Zuwanderer, ob sie über wenige hundert Kilometer oder über einen Ozean gekommen waren, gingen in der Massengesellschaft nicht so verloren, wie viele, vor allem bürgerliche Kritiker das meinten: Sie schrieben Briefe an Verwandte oder bauten enge soziale Beziehungen, durch ethnische oder politische Gemeinsamkeit gestützt, im Stadtviertel auf. Doch das Gefühl eines Verlustes von Individualität, von Gleichförmigkeit und Anonymität, von der Masse als dem unsteten «Treibsand» der modernen Gesellschaft prägte um 1900 zunehmend die öffentliche Meinung und ließ die Massengesellschaft eher als Bedrohung denn als Verheißung erscheinen.
    Masse begegnete jedoch nicht nur als diffus, heterogen und passiv, sondern geradezu im Gegenteil auch als eine formierte mit sehr aktiver politischer Stoßrichtung. Erneut stand dahinter besonders die Erfahrung des schnell gewachsenen Industrieproletariats und der hochorganisierten Arbeiterbewegung – zugleich die bürgerliche Angst vor deren revolutionärer Aktion. Denn als Teil einer solchen Masse, deren Kennzeichen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, und erst recht nachdem Ersten Weltkrieg, immer mehr Bewaffnung und Uniformierung wurden, veränderten Menschen ihr übliches individuelles Verhalten; das Kollektiv gewann eine eigene Dynamik. Schon 1895 hatte der Franzose Gustave Le Bon diese besondere «Psychologie der Massen» beschrieben. Daran knüpfte sich in den folgenden Jahrzehnten eine unerschöpfliche sozialwissenschaftliche und politische Diskussion, auch in der sozialistischen Arbeiterbewegung selber, nicht zuletzt in deren «syndikalistischen», also von Gewerkschaft und Arbeitsplatz her denkenden Strömungen, die in romanischen Ländern wie Frankreich und Italien einflussreich waren. Damit schillerte die Sicht auf die Masse, das Volk oder, zusammengezogen, die «Volksmassen», erneut zwischen zwei Polen der antiken Theorie: Das Volk als Gesamtheit, als universale Kategorie – oder als die Mehrheit der unteren Schichten, als Pöbel und Proletariat. Der Begriff des Volkes oder der Volksmassen hat übrigens auch im Marxismus-Leninismus, im ganzen 20. Jahrhundert und bis in den «Realsozialismus» nach 1945 hinein, diese Ambivalenz bewahrt. Damit blieb, durchaus bewusst, offen, ob es sich um ein inklusives Konzept handelte oder ob ein Teil der Gesellschaft aus einem «Volk», das im Kern die sozialistische Arbeiterklasse war, herausdefiniert werden konnte. Um 1900 aber stand der Aspekt der Formierung, der gleichgerichteten Aktion im Vordergrund. Was man zunächst als eine demokratische Erweiterung breiterer, auch ärmerer Schichten verstehen kann – heute würde man im Jargon der Politikwissenschaft und der sozialen Bewegungen sagen: als ein «empowerment» –, verknüpfte sich zugleich mit der Idee eines Aufgehens individueller Freiheit im Rausch des Kollektivs und mit einer Neigung zur Aktion als Selbstzweck: Die Masse richtete sich, zum Befreiungsschlag formiert, gegen scheinbar verkrustete Institutionen, selbst wenn es sich um Institutionen der Demokratie handelte.
    Aus dieser neuen Präsenz der Masse konnte man zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche

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