Was ist Demokratie
Kapitalismus um 1900 gewonnen hatte, als er auch jenseits der Betriebe auf soziale Beziehungen, auf Kulturproduktion, auf Konsum immer mehr ausgriff. Aber es war ein ähnlich gefährliches Argument wie das von der Schicksalhaftigkeit der Organisation, denn erneut führte es in eine Scheinalternative: Man konnte den Kapitalismus nur leidend ertragen oder ihn zu überwinden suchen. Die Haltung des resignierten Fatalismus hat Max Weber in den Schlusssätzen seiner Untersuchung über die «Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus» von 1904 in das berühmte Wort vom «stahlharten Gehäuse» gefasst, zu dem der einst befreiende Aufbruchgeist erstarrt sei.
Während die modernen Gesellschaften also einerseits gleichförmiger, nivellierter wurden, etablierten sich andererseits neue soziale Hierarchien. So wie man am Ende des 20.Jahrhunderts von der «globalen Klasse» zu sprechen begann â eine Jetset-Elite der Wirtschaft, Politik und Kultur, für die nationale Zugehörigkeit keine Rolle mehr spielt â, stieg hundert Jahre zuvor eine nationale Klasse auf, die nicht mehr in ihrer Heimatregion verankert war und einen exklusiven Führungsanspruch behauptete. Bis in die Kultur und Unterhaltung reichte dieser Gegentrend zur demokratischen Nivellierung, etwa in der schärferen Grenze zwischen bürgerlichem und proletarischem Publikum im Theater. In alldem erkannten viele am Anfang des 20. Jahrhunderts einen grundlegenden Wandel, der die anderen Bereiche der Gesellschaft nicht unberührt lassen konnte, auch nicht die Politik: Musste nicht auch die demokratische Beliebigkeit einer neuen Effizienz, Hierarchie und Organisation nach wissenschaftlichen Prinzipien weichen? So zog die neue Massengesellschaft den Trend zur Demokratisierung in zwei gegensätzliche Richtungen. Einerseits wirkte sie befreiend, gab Individuen neue Spielräume bis weit ins Privatleben hinein, eröffnete Beteiligungschancen. Andererseits nährte sie â nicht selten bei denen, die sich als besonders modern verstanden â die Ãberzeugung, die Demokratie als Regierungsform sei dieser neuen Gesellschaft nicht mehr angemessen.
2 Demokratie als Auslaufmodell:
Die Vorzüge der Diktatur
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Landkarte Europas auf einen Schlag viel demokratischer gefärbt. Daran dachte auch der britische Jurist und liberale Politiker James Bryce, als er 1921 in seinem grundlegenden Buch über «Moderne Demokratien» auf die jüngere Geschichte zurückblickte und überlegte, ob «der nun weithin sichtbare Trend zur Demokratie ein natürlicher Trend ist, der einem allgemeinen Gesetz des sozialen Fortschritts folgt». Er formulierte das mit einer Ãberzeugung, die sowohl in einer angelsächsischen Demokratiegewissheit verankert war als auch im klassischen liberalen Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts mit seinen Gesetzen des unverwüstlichen Aufstiegs zu einer besseren und freieren Welt. Schon damals aber galt beides nicht mehr uneingeschränkt. Zwar kamen auch in GroÃbritannien und den USA in der Zwischenkriegszeit neue Zweifel an der Demokratie auf, doch diese Zweifel griffen im kontinentalen Europa viel weiter und grundsätzlicher um sich und mündeten häufiger, über Skepsis hinaus, in Gegnerschaft gegen die Demokratie oder jedenfalls Gleichgültigkeit gegenüber ihrer möglichen Zerstörung. Zugleich hatte das liberale Fortschrittsdenken, das erst im späten 19. Jahrhundert durch den Aufstieg der Naturwissenschaften eine neue, scheinbar definitive Absicherung erhalten hatte (so dass der «späte» Friedrich Engels meinen konnte, aus dem Sozialismus selber eine Art Naturwissenschaft machen zu können), seinen Höhepunkt überschritten. Liberalismus und Fortschritt waren «out», dagegen entdeckte man jetzt häufig die Flüssigkeit und Unberechenbarkeit der historischen Entwicklung wieder. Die Geschichte strebte nicht unaufhaltsam einem höheren Ziel entgegen, das im liberalen Sinne zu Ausbau und Vervollkommnung der Demokratie führen würde, sondern vollzog sich eher in Zyklen des Aufstiegs und Niedergangs, in einem Hin- und Herwogen verschiedener Gesellschafts- und Regierungsformen, wie es im 18. Jahrhundert etwa der Italiener Giambattista Vico in seiner Geschichtsphilosophie entworfen hatte. Oswald Spengler und Arnold Toynbee schlossen daran in der ersten Hälfte des
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