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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Konsequenzen ziehen – und beide spielten in den wirtschaftlich entwickelten, politisch dynamisierten Ländern Europas und Nordamerikas eine wichtige Rolle, vom ausgehenden 19.Jahrhundert über den Ersten Weltkrieg hinaus bis in die 1930er Jahre. Die erste Antwort auf die neue Gesellschaft, in ihrer vermeintlichen Anonymität und schillernden Vielfalt, lag in einer Sehnsucht nach Gemeinschaft. Wo Geburt und Herkunft die Zugehörigkeit zu einem engen Beziehungsgeflecht nicht mehr garantierten, sollten neue Formen des Zusammenschlusses Vertrauen und Verlässlichkeit spenden.Der Soziologe Ferdinand Tönnies hatte schon 1887 die enge, emotionale Sicherheit gebende «Gemeinschaft» der abstrakten, rationalen «Gesellschaft» gegenübergestellt. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Suche nach Gemeinschaft zu einem grenzübergreifenden Projekt für alle, die der modernen Fragmentierung der Existenz entgegentreten wollten. Das konnte, wie bei dem amerikanischen Philosophen John Dewey in den 1920er Jahren, einem urdemokratischem Impuls folgen, wenn eine «Great Community» an die Stelle der verlorenen Dorfgemeinschaften der frühen Siedler trat. Das nahm in manchem die moderne Idee einer Zivilgesellschaft verantwortungsbewusster Bürger vorweg. Auch die sozialistische Arbeiterbewegung pflegte so etwas wie einen Kult der Gemeinschaft – in ihrer Jugendarbeit, in ihren Sportvereinen – als Nährboden der Demokratie. Aber in konservativen oder völkischen Kreisen klang beim Streben nach Gemeinschaft die Furcht vor gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt mit, später dann auch der Wunsch nach Homogenität und nach Ausgrenzung derjenigen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gezählt wurden.
    Die zweite Antwort schlug gewissermaßen eine «vertikale» statt der «horizontalen» Lösung des Problems unstrukturierter Massengesellschaft vor. Die Massen schienen hilflos und ungeordnet; ihnen musste durch Führung eine Richtung gegeben werden. Der Gegensatz zwischen den ungebildeten, politisch nicht koordiniert handlungsfähigen Volksmassen und der Klugheit und Führungskunst von Eliten reicht wiederum bis in die antike politische Theorie zurück. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stieg er vor dem Hintergrund der sozialen Veränderungen, und auch als eine Reaktion auf die Demokratisierung, zu ungeahnter neuer Prominenz auf. Hier das Volk, dort Eliten; hier Massen, dort Führung – diese Denkfigur begann die Kultur der Jahrhundertwende an allen möglichen Stellen zu durchtränken: in Europa und Amerika, in Wissenschaft und öffentlicher Meinung, auch: links und rechts. Seit dem späten 20. Jahrhundert haben wir uns vollkommen andere kulturelle Reaktionen auf Phänomene der Masse, des Chaos, des Durcheinander angewöhnt. Das Durcheinander bedarf demnach nicht der Führung, der zentralen Steuerung, sondern stiftet von selbst eine Art kreativer und fluider Ordnung. Ob es um Chaostheorien geht oder um Fraktale, um «Fuzzy Logic» oder die «emergente Ordnungsstiftung» der Systemtheorie – darin unterscheidet sich der gegenwärtige Umgang mit Vielfalt und Unordnung fundamental von der Sichtweise der Zeitgenossen vor hundert Jahren.
    Damals schien Ordnungsstiftung durch straffe Gliederung, Hierarchie und Führung oftmals alternativlos. Friedrich Nietzsches vielzitierte Abneigung gegen den «Herdentrieb» der Massen, denen er große Kulturleistungen nicht zutraute, und sein geistesaristokratisch-elitäres Gebaren sind nur ein Beispiel dafür – freilich eines, das nach Nietzsches Tod häufig für antidemokratische Politik vereinnahmt wurde. Wiederum musste man aber kein Gegner der Demokratie sein, geschweige denn eine Diktatur anstreben, um eine Politik von Masse und Führung für sinnvoll, ja gerade unter modernen Bedingungen für unausweichlich zu halten. Max Weber, der sich vom Nationalisten des Wilhelminismus zum Anhänger der parlamentarischen Demokratie und Wegbereiter der Weimarer Republik wandelte, stellte die Frage nach der «Führerauslese» ganz nüchtern und kam sogar zu dem Ergebnis, dass die Demokratie diese Aufgabe besser löse als alle anderen Regierungssysteme. Und doch trat bei ihm – und das war nicht untypisch – neben die funktionale Nüchternheit auch ein Zug der heroischen Arroganz: Nur in elitärer Absetzung vom Gewöhnlichen, vom

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