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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Durchschnitt konnten sich der im Massenzeitalter bedrohte Individualismus und die gefährdete Freiheit des Einzelnen vermeintlich noch behaupten. Die große Zeit des Liberalismus und Individualismus aber schien vorüber zu gehen; die Demokratie damit als ein Produkt des 19. Jahrhunderts am Wegrand der Geschichte liegen zu bleiben.
    Dabei konnte sich die Demokratie selber diesem Trend zur Ausbildung von Eliten und straffen Führungsstrukturen nicht widersetzen. Selbst in den mächtigsten demokratischen Organisationen des frühen 20. Jahrhunderts, den großen europäischen Arbeiterparteien, war der ursprüngliche Egalitarismus der Brüderlichkeit professionellen Hierarchien gewichen. So beobachtete es um 1910 Robert Michels, ein Grenzgänger zwischen Deutschland und Italien, zwischen Sozialismus und Faschismus in seiner Analyse des modernen Parteiwesens, aus der er weitreichende Schlüsse für die Möglichkeit von Demokratie unter den Bedingungen moderner Gesellschaften zog. In den von ihm eingehend studierten Parteischulen der Sozialisten in Deutschland, Italien und England war tatsächlich ein neuer, professioneller Typus des Politikmanagers entstanden: etwa die Gewerkschafts- und Arbeitersekretäre der deutschen SPD und Freien Gewerkschaften. Und in den großen amerikanischen Städten – auch das war Michels bekannt – regierten damals die «Bosse» mit ihren «Parteimaschinen» in einer Art plebiszitär gestützter, autoritärer Korruption. Aus alldem entwickelte Michels seinnoch heute bei Politikwissenschaftlern bekanntes «ehernes Gesetz der Oligarchie», nach der alle großen Massenorganisationen zur Ausbildung relativ abgeschlossener, eben «oligarchischer», Führungszirkel neigen. Dass die Massen direkt herrschten, sei schon technisch unmöglich, aber auch die repräsentative Demokratie könne den organisatorischen Notwendigkeiten nicht mehr gerecht werden. Demokratie und Organisation stünden sich unversöhnlich gegenüber, und in dieser Alternative sei es besser, auf das erste als auf das zweite zu verzichten.
    Eine solche «Logik» kennzeichnete schon vor dem Ersten Weltkrieg, dann noch mehr in den 1920er Jahren das politische Denken: wesentlich mehr in Europa als in den USA; mehr in Kontinentaleuropa als in Großbritannien; mehr in Deutschland und Italien als in Frankreich. Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca waren zwei italienische Wissenschaftler, die noch mehr als Weber und Michels von dem Thema der Eliten und der Führung geradezu besessen waren. Auch ihre Beiträge werden bis heute oft gelesen, wenn es um das Problem der Auswahl demokratischer Führung geht. Charakteristisch für das frühe 20. Jahrhundert waren aber die Unterstellung einer Zwangsläufigkeit der demokratischen Misere und die Konstruktion einer Scheinalternative, in der man sich zu entscheiden habe zwischen der Demokratie von einst und den modernen Imperativen politischer Steuerung in einer technisierten Massengesellschaft. Erneut waren das nicht irgendwelche Hirngespinste, sondern Produkte alltäglicher Erfahrung – und eines tiefgreifenden, nicht zuletzt ökonomischen Wandels. Der Kapitalismus war im späten 19. Jahrhundert in eine neue Phase getreten, die von Großunternehmen, von horizontaler und vertikaler Integration, von zunehmender «Organisierung» geprägt war, sowohl innerbetrieblich wie im Geflecht zwischen Markt und Staat. Der Ökonom und SPD-Politiker Rudolf Hilferding sprach von «Organisiertem Kapitalismus». In den Fabriken ging es um Effizienz und straffe Organisation nach wissenschaftlichen Prinzipien des Managements, der Psychologie und Physiologie; Frederick Taylors Buch über die «Principles of Scientific Management» von 1911 wirkte hier bahnbrechend. Wissenschaftliche Experten zogen in die Betriebe ein und bemühten sich um eine Rationalisierung der Produktion nach möglichst objektiven Kriterien.
    Nicht zufällig überschnitt sich die Debatte des beginnenden 20. Jahrhunderts um Massen und Führung in der Politik mit einem großen Kapitalismusstreit, der weit über den Sozialismus hinaus in die «bürgerliche» Nationalökonomie und in die Öffentlichkeit reichte. Jenseitsdes Sozialismus strahlte auch die Überzeugung von der «Schicksalhaftigkeit» des modernen Kapitalismus aus: allzu verständlich angesichts der Alltagsmacht, die der

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