Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
Vom Netzwerk:
hatte sich seit der Jahrhundertwende ein radikal-revolutionärer Flügel des Sozialismus gebildet, der jedenfalls rhetorisch behauptete, das parlamentarische System und die «bürgerliche» Demokratie nicht durchReform zähmen, freier und gerechter machen, sondern prinzipiell überwinden zu wollen. Die historische Probe aufs Exempel hatte es bisher nicht gegeben. Man mochte also geteilter Meinung darüber sein, ob die linken, revolutionären Sozialisten, wenn sie die Chance hätten, tatsächlich die Parlamente abschaffen und liberale Freiheitsrechte des «Klassenfeindes» beschränken würden; und ob sie dafür eine Zustimmung der Mehrheit für erforderlich hielten. Was die «Diktatur des Proletariats» oder eine «sozialistische Demokratie» in konkreter institutioneller Praxis heißen könnte, dazu hatten ihre Vordenker eher diffuse Konzepte entwickelt, die sich oft (wie schon Marx selber) auf die kurzlebige Pariser Kommune von 1871 beriefen. Um 1910 konnte man, wenn man nicht in panischer Sozialistenfurcht erstarrte, durchaus gelassen darauf vertrauen, dass auch die revolutionären Heißsporne im Zweifelsfall die Macht der Realitäten und der Tradition anerkennen und das parlamentarische System weiterentwickeln, den Kapitalismus staatlich regulieren und sozialegalitäre Reformen betreiben würden.
    In der Politik Lenins, in der russischen Oktoberrevolution und in der frühen Geschichte der Sowjetunion bis in die 1930er Jahre aber wurden die theoretischen Forderungen des radikalen Marxismus auf bemerkenswerte Weise beim Wort genommen. Das heißt nicht, dass sich die Etablierung des sowjetischen Kommunismus alleine oder überwiegend aus den Schriften von Marx, Engels und Lenin erklären lässt. Aber zwischen den Ideen und Schriften Lenins und der politischen Realisierung des frühen bolschewistischen Systems klafft auch keine prinzipielle Kluft, kein Verrat an ursprünglichen Ideen einer besseren Welt, die im Verlaufe der Revolution und Machtsicherung preisgegeben worden wären. Im Weltbild des revolutionären Marxismus hatte sich seit der Jahrhundertwende, weit über eine scharfe Kritik des Kapitalismus hinaus, ein vehementer Hass auf die gesamte «bürgerliche» Welt, einschließlich der liberalen Demokratie und nicht zuletzt des Parlamentarismus, verfestigt, der von Lenin mit unbestreitbarer Intelligenz und Eloquenz auf die Spitze getrieben wurde. An seiner Schrift «Staat und Revolution», im Sommer 1917 zwischen der Rückkehr aus dem Schweizer Exil und dem Oktoberputsch entstanden, kann man diese Entwicklung und Lenins Auffassung von der Demokratie exemplarisch nachvollziehen.
    Der Demokratiebegriff Lenins war ein doppelter. Auf der einen Seite behielt er seinen positiven Klang: als eine Erweiterung und endliche Erfüllung des Versprechens der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie.Zum ersten Mal sollte es Demokratie auch für die Armen und Unterdrückten geben, wozu freilich «eine Reihe von Freiheitsbeschränkungen für die Unterdrücker, die Ausbeuter, die Kapitalisten» nötig seien, deren Widerstand «mit Gewalt» gebrochen werden müsse. Institutionell komme auch die «proletarische Demokratie», so meinte Lenin, nicht ohne Vertretungskörperschaften aus; als eine plebiszitäre Veranstaltung oder ein «grass roots»-Unternehmen stellte er sich den Sozialismus nicht vor. Parlamente jedoch hielt er für korrupte und verfaulte «Schwatzbuden». An ihre Stelle sollten «arbeitende Körperschaften» treten – das waren dann konkret: die Räte, die «Sowjets» –, in denen die Deputierten die Gesetze machen und sie zugleich ausführen und kontrollieren. Mit anderen Worten, eine Gewaltenteilung war nicht vorgesehen; das hielt Lenin ganz ausdrücklich fest. Wenige Monate später jagten seine Anhänger tatsächlich das gewählte Parlament, die Konstituierende Versammlung, auseinander und stützten sich, formal gesehen, allein auf die Räte.
    Daneben stand eine andere Vorstellung von Demokratie, nach der diese überhaupt nicht zu irgendeiner Weiterentwicklung fähig war, sondern mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und als deren Produkt, als Teil ihres politischen Überbaus, verschwinden müsse. Damit knüpfte Lenin an die Überlegungen von Friedrich Engels zum «Absterben des Staates» im Kommunismus, an die uralte

Weitere Kostenlose Bücher