Was ist Demokratie
Hitler, noch eine immer ausgefeilter agierende industrielle Tötungsmaschinerie. Der massenhafte Tod wurde vielmehr als unvermeidliche Nebenwirkung auf dem Wege zur Erreichung eines höheren Ziels in Kauf genommen. Er wurde als eine Art Notwehr gegen Feinde legitimiert, die den Kommunismus bedrohten und zu sabotieren versuchten â als Notwehr gegen die stets drohende «Konterrevolution». So hat die jüngere Stalinismusforschung übereinstimmend ein Weltbild, eine in Mentalitäten und Handlungsmustern eingeschriebene Kultur des Stalinismus beschrieben. Geradezu obsessiv war dabei die Vorstellung, überall verberge sich der Feind und müsse bekämpft werden. Aus Wachsamkeit wurde Misstrauen, aus Misstrauen folgte Denunziation und Gewalt. Die gesamte Gesellschaft war seit der Revolution in einen permanenten Ausnahmezustand versetzt, in ständiger Mobilisierung. Deshalb lassen manche Forscher die Russische Revolution sogar bis in die 1930er Jahre reichen. Statt auf den natürlichen Verlauf der Geschichtsgesetze zu vertrauen wie im ursprünglichen Marxismus, pflegte der sowjetische Kommunismus einen Kult des Willens und der Aktion â also eine Variante jenes Voluntarismus, der die Gegnerschaft zur Demokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts allenthalben prägte. Man konnte ihn mit eisernem Willen und den eigenen Händen schaffen, den «neuen Sowjetmenschen» als Realisierung einer Utopie. Technik und Industrie, möglichst im groÃen MaÃstab, waren die Verbündeten solchen Machbarkeitsglaubens. Erst in konkreten Situationen â vom Bürgerkrieg bis zur Kollektivierung, von ethnischen Konflikten bis zu den Schauprozessen â konstituierte sich dieses Weltbild, aber viele seiner Elemente waren seit der Jahrhundertwende vorgedacht worden.
In dieser Konstellation wuchs der Demokratie gewissermaÃen unfreiwillig eine neue Eigenschaft zu. Sie war im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mit einem ordentlichen Maà von Selbstbewusstsein und Pathos gestartet, mit dem Bewusstsein der eigenen Ãberlegenheitund historischen Unwiderlegbarkeit, mochten die Gegner wie Monarchie, Adel und konservativ-kleinbürgerliches «Philistertum» im Moment auch noch so stark sein. Konfrontiert mit Gegnern, die dieses Selbstbewusstsein einer unwiderlegbaren historischen Mission nicht nur übernommen, sondern mit den Mitteln und Methoden des 20. Jahrhunderts noch einmal deutlich überboten hatten, konnte Demokratie als Verweigerung dieses Anspruches, als Regierungsform der Beschränkung und Bescheidenheit gedeutet werden. Das knüpfte an den Gedanken der MäÃigung von Extremen an, der sich seit der Antike mit der gemischten Verfassung verbunden hatte und von da auf die demokratische Gewaltenteilung übergegangen war. Aber es kam eine neue Pointe hinzu: Nicht nur war die MäÃigung ein stolzes Merkmal der Demokratie; die Demokratie wurde vielmehr als vergleichsweise schwache und zerbrechliche Ordnung erkannt, als ein Regime, das Perfektion niemals erreichen konnte. Im Vergleich mit den selbstbewussten neuen Ordnungen des Kommunismus und des Faschismus, die sich jeweils mit der Geschichte im Bunde wussten, war Demokratie bereits entzaubert. Gegen den Vorwurf der Langeweile konnte sie sich nur schwer wehren, hatte dem aber, in einer Welt der entfesselten Gewalt, den Vorzug einer wenigstens relativen Zivilität entgegenzustellen.
Einstweilen aber strahlte die Dynamik des kommunistischen Aufstiegs weit über die Sowjetunion hinaus und verlieh ihrem Modell Attraktivität auch bei englischen, französischen und amerikanischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit; zum Teil bis in die 50er und 60er Jahre hinein. Erst recht in der Weltwirtschaftskrise, während derer die Sowjetunion einen gewaltigen industriellen Sprung nach vorn machte, schien das Gegenmodell zum Kapitalismus gefunden, nicht nur bei jenen â und auch das waren nicht wenige â, für die der sowjetische Weg selbst bei erkannten Mängeln eine prinzipielle Solidarität verdiente, weil er es mit der Emanzipation der Arbeiterklasse endlich ernst meinte. Doch etliche kehrten, wie André Gide oder Arthur Koestler, desillusioniert von Reisen in die Sowjetunion zurück, und manchmal schlug die eigene Enttäuschung in umso schärfere Feindschaft um. So artikulierte sich kurz nach der groÃen Krise, welche die ohnehin umstrittene Demokratie in den
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