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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Sehnsucht nach der vollkommen herrschaftsfreien Gesellschaft an. Der Staat konnte nach marxistischer Auffassung nichts anderes sein als ein «Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse», so bestätigte es Lenin in seiner Schrift von 1917. Wenn Engels also vom Absterben des Staates spreche, meine er in Wirklichkeit ein Absterben der Demokratie, die ja nichts anderes sei als die staatliche Hülle des bürgerlichen Kapitalismus. In der sozialistischen Übergangszeit werde es zwar noch Staat und Demokratie geben, sogar eine «vollkommene» Demokratie. Aber das eigentliche Ziel, das im Kommunismus erreicht würde, war die Abschaffung von Staat und Demokratie gleichermaßen. Daran war überhaupt nichts metaphorisch gemeint. Lenin gab eine bündige Definition: «Demokratie ist ein die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit anerkennender Staat, d.h. eine Organisation zur systematischen Gewaltanwendung einer Klasse gegen die andere.» Und wo Gewalt schon angewendet wurde – war es da nicht legitim, mit Gewalt auch zu antworten? So war die Demokratie ganz ausdrücklich zur Beseitigung preisgegeben. Irgendeine Spur des Zögerns, der Ambivalenz, des Nachdenkensüber die historischen Errungenschaften von Freiheit und Partizipation? Man sucht sie bei Lenin vergebens.
    Deshalb führt die zeitweise beliebte Vorstellung, die guten Intentionen Lenins seien nach seinem Tod von Stalin, den er als Nachfolger nicht gewollt habe, aufgegeben und geradezu in ihr Gegenteil verkehrt worden, in die Irre. Zweifellos lässt sich die Euphorie für die Rätebewegung in der revolutionären Situation, ähnlich wie dann 1918/19 in Deutschland, ein gutes Stück weit nachvollziehen. In den Räten dominierten die Bolschewisten bis zur Oktoberrevolution ohnehin nicht; sie waren 1917 noch weit entfernt von jenen erstarrten Veranstaltungen einer Nomenklatura, deren Bild aus der Breschnew-Ära sich so tief eingeprägt hat. Wie das in Revolutionen typisch ist, mischten sich Spontaneität, basisdemokratische Impulse und chaotisches Experimentieren in einer noch regellosen Landschaft. Aber der Führungsanspruch der Bolschewiki setzte sich zunehmend durch, und in Lenins Konzeption des «demokratischen Zentralismus» war eine offene, von unten aufsteigende Meinungsbildung in Gremien ausdrücklich nicht vorgesehen.
    Wenn man das rasche Verschwinden der Demokratie nach der Oktoberrevolution und die Etablierung einer extrem gewalthaften Diktatur erklären will, sind die konkreten Umstände und Erfahrungen der Zeit zwischen 1917 und dem Ende der 1930er Jahre jedoch noch wichtiger als die Kontinuität von Lenins Theorie in die bolschewistische Praxis. Der Kommunismus in der (1922 gegründeten) Sowjetunion entstand, so hat es die neuere Forschung gezeigt, in der eigenen Selbstbehauptung gegen wirkliche und eingebildete Feinde, in einer von ihm selbst stilisierten gewalthaften Auseinandersetzung, die immer mehr Gewalt hervorbrachte und sich über zwei Jahrzehnte zu einem Weltbild der Verfolgung und Selbstverteidigung verfestigte. Dieser Prozess begann nicht mit Stalin in der Mitte der 1920er Jahre, auch nicht mit den inneren Machtkämpfen in der Kommunistischen Partei zunächst gegen die Linksabweichler um Trotzki, dann gegen die Rechtsabweichler um Bucharin, mit ihrem letzten Höhepunkt in den Schauprozessen 1936–38. Er begann vielmehr in der Revolution 1917/18 und damit, das darf man nicht vergessen, noch im Ersten Weltkrieg. Der Bürgerkrieg bis 1921 setzte auch die Gewalthaftigkeit des Weltkriegs fort und trug sie an neue Fronten, bis hin zu massenhaften Pogromen und Exzessen von Terror und Vernichtung in der zivilen Gesellschaft, in der ländlichen Provinz. In den späten 1920er Jahren setzten neue Verfolgungswellen ein und das Lagersystem des Gulag entstand. Zugleich begann die Kollektivierungder Landwirtschaft, getrieben von einem übersteigerten ideologischen Hass auf die vermeintlich bürgerliche Klasse der Kulaken, der relativ wohlhabenden Vollbauern, und einer Versorgungskrise, in der das Regime Getreide für die wachsende städtische Bevölkerung zu sichern versuchte. In der Ukraine führte dieser Kampf am Anfang der 1930er Jahre in den Hungertod von Millionen Menschen, und in mancher Hinsicht wurde die Grenze zum Genozid überschritten.
    Dahinter stand weder eine langgehegte Absicht der Vernichtung einer «Rasse» wie bei

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