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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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setzen. Die Präambel der südafrikanischen Verfassung von 1996 setzt sich unmittelbar zur damals gerade überwundenen Apartheid-Vergangenheit in Beziehung: «We, the people of South Africa, Recognise the injustices of our past». Man kann darüber spekulieren, ob eine Reflexion auf Nationalsozialismus und Holocaust den Weg in eine deutsche Verfassung gefunden hätte, wäre sie seit den 1980er Jahren neu geschrieben worden, wenn man an die seitdem so zentral gewordene Holocaust-Erinnerung als Teil des demokratischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik denkt. 1949 ging man zu dieser Vergangenheit in die Distanz der Abstraktion. Dass etwas Ungewöhnliches geschehen war, konnte man nur dem Hinweis auf die «Übergangszeit» entnehmen, für die das Grundgesetz eine neue Ordnung schaffen sollte.
    Der erste Artikel der Verfassung hebt sich von den folgenden, die einzelne Grund- und Freiheitsrechte benennen, gleich in mehrfacher Hinsicht ab. Er bettet die Bundesrepublik in ein internationales oder sogar überstaatliches Regime von Menschenrechten ein, wie es im Jahr zuvor die Vereinten Nationen geschaffen hatten. Und er definiert die Grundrechte als «unmittelbar geltendes Recht», das die Verfassungsorgane bindet. Der Grundrechtsteil hat also mehr als nur den Charakter einer Deklaration, eines Bekenntnisses. Deshalb werden die Bürgerinnen und Bürger am Ende des Grundrechtsteils (Art. 19, Abs. 4) ausdrücklich auf den Rechtsweg verwiesen, wenn sie sich durch Verfassungsorgane in ihren Rechten verletzt fühlen. Wer meint, ihm würden Grundrechte nicht voll gewährt, kann dagegen vor Gericht ziehen. Die allgemeine Menschenwürde aber erlangt durch diesen Aufbau den Status eines übergeordneten Rechts. Sie ist mehr als ein Grundrecht wie die anderen, die dann folgen: Freiheit der Person, Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichberechtigung von Mann und Frau, Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit, Postgeheimnis, Freizügigkeit und anderes mehr.
    Erst Artikel 20 definiert die Natur des neuen Gemeinwesens: «Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.» In ihm geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und wird von diesem «in Wahlen und Abstimmungen durch besondere Organe derGesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt». In konzentrierter Form sind hier das republikanische Prinzip (keine Monarchie!), das demokratische und auch das Sozialstaatsprinzip festgehalten, die Gewaltenteilung – und natürlich der Föderalismus des «Bundesstaates», nachdem die elf Gründungsländer schon in der Präambel einzeln genannt wurden. Eine bemerkenswerte Konsequenz aus den Weimarer Erfahrungen zog der Artikel 21, der den politischen Parteien ausdrücklich, gegen die tief verwurzelte Abneigung gegen das «Parteiengezänk», eine Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes zusprach und sie damit indirekt in den Rang von Verfassungsorganen erhob. Die markantesten Unterschiede zur Reichsverfassung von 1919 aber finden sich im Verständnis von Präsident, Parlament und Regierungschef und ihrem Verhältnis zueinander. Der Bundespräsident des Grundgesetzes ist ein Staatsoberhaupt ohne Macht; an die Stelle der Volkswahl ist die Wahl durch ein eigenes Gremium, die Bundesversammlung, getreten; von dem berüchtigten Notverordnungsrecht nach Art. 48 der Weimarer Verfassung ist keine Spur geblieben.
    Den Bundestag als die Volkskammer des Parlaments hat das Grundgesetz gestärkt, aber zugleich im Sinne der britischen Westminster-Demokratie auf Regierungsbildung und damit auf die klare Trennung von Regierungsfraktion und Opposition hin zugeschnitten. Damit sind Reste des alten «konstitutionellen» Denkens verschwunden, nach dem das Parlament als Ganzes einer Regierung gegenüberstand, die mehr vom Staatsoberhaupt (dem Monarchen oder eben, wie in Weimar, einem starken Präsidenten) abhängig war als von den Mehrheitsfraktionen. Daraus folgt, erst recht, eine Stärkung der Regierung, zumal des Kanzlers, der mit der oft zitierten «Richtlinienkompetenz» (Art. 65) die Grundlinien der Politik vorgibt und verantwortet. Aber erst die selbstbewusste, manchmal autoritäre Amtsführung Adenauers hat dieser Norm auch Leben eingehaucht; wäre die Bundesrepublik mit schwachen und kurzlebigen Kanzlern gestartet, hätte sich die «Verfassungswirklichkeit»

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