Was ist Demokratie
seitdem sicher anders entwickelt. Ihren konzentriertesten Ausdruck findet die Stärkung von Parlament und Regierungschef im «konstruktiven Misstrauensvotum» des Parlaments nach Art. 67 GG: Dem Bundeskanzler kann das Misstrauen des Parlaments nur ausgesprochen werden (eine Regierung also nur «gestürzt» werden), indem der Bundestag mit Mehrheit einen Nachfolger wählt. So sollte es am 27. April 1972 geschehen, als Rainer Barzel (CDU) jedoch zwei Stimmenfehlten und Willy Brandt Kanzler der sozialliberalen Koalition blieb; so geschah es tatsächlich am 1.Oktober 1982, als Helmut Kohl mit dem Seitenwechsel der FDP Helmut Schmidt als Bundeskanzler ablöste. Nimmt man alles zusammen, legt das Grundgesetz ein klares Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie ab und distanziert sich damit von plebiszitären und direkten Formen. Darin spiegeln sich die Erfahrungen und Ãngste angesichts der vermeintlichen Schwächen der Weimarer Demokratie, auch eine Angst vor der Verführbarkeit und Unberechenbarkeit des Volkes, dessen Meinungsbildung am besten durch den Filter gewählter Vertreter zum Ausdruck komme. Aber auch jenseits der spezifisch deutschen Traditionen ist das Grundgesetz ein charakteristischer Ausdruck jenes «realistischen» Demokratieverständnisses, das die Zeit der Jahrhundertmitte, auf die groÃe Krise der Demokratie folgend, dominierte.
Fragt man, wie die Demokratie im Grundgesetz «verankert» ist, muss von einem besonders starken Sicherungsanker noch die Rede sein: dem Prinzip der «wehrhaften» oder auch «streitbaren» Demokratie. Anders als die Weimarer Republik verhält sich die Bundesrepublik zu Demokratie und freiheitlicher Ordnung nicht neutral und gewissermaÃen überparteilich. Das Mehrheitsprinzip und die Volkssouveränität können nicht so ausgelegt werden, dass sich mit ihnen Grundrechte und Demokratie abschaffen lieÃen, selbst wenn sich dafür eine Mehrheit des Volkes findet. Die Verfassung lässt sich ändern; dem Kanzler oder dem Präsidenten könnten mehr oder weniger Rechte zugebilligt werden. Aber ein Kernbestand der «freiheitlichen demokratischen Grundordnung» kann niemals zur Disposition stehen; dazu gehören Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, Pluralismus und Opposition. Das Grundgesetz selber verwendet den Begriff der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nur am Rande (z.B. in Art. 21, Abs. 2 zur Verfassungswidrigkeit von Parteien), doch er hat in der Geschichte der Bundesrepublik zeitweise eine erhebliche Rolle gespielt.
Zunächst diente er als emphatischer Begriff der Verteidigung der Verfassung, so wie ihn das Bundesverfassungsgericht 1952 konkretisierte und wie er in den Verbotsverfahren gegen die rechtsradikale SRP 1952 und gegen die KPD 1956 zur Anwendung gebracht wurde. In den späten 60er und den 70er Jahren griff ihn dann die politische Linke ironisch auf, die darin ein Instrument zur Ausgrenzung abweichender Meinungen sah, so wie es der Liedermacher Franz Josef Degenhardt inseiner «Befragung eines Kriegsdienstverweigerers» 1972 formulierte: «Also Sie berufen sich hier pausenlos aufs Grundgesetz, sagen Sie mal, sind Sie eigentlich Kommunist? â Hier darf jeeeder machen was er will, im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich.» Auf der anderen Seite beriefen sich linke Protestbewegungen in den 1970er und 80er Jahren gerne und extensiv auf das Widerstandsrecht, das erst 1968 im Zuge der Notstandsgesetzgebung als Art. 20, Abs. 4 in das Grundgesetz aufgenommen worden war. Dabei wurde der Spieà umgedreht; die wirklichen Verfassungsfeinde, die nach der Beseitigung der «FDGO» strebten, saÃen in dieser kritischen Perspektive an den Schalthebeln der Macht, bereiteten verbotene Angriffskriege oder die atomare Verseuchung des Volkes vor â gegen sie konnte das «Recht auf Widerstand» beansprucht werden.
Dieses diskursive Spiel mit der Verfassung reicht bereits weit in die Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes hinein und ist eines von vielen möglichen Beispielen für seine Bedeutung weit über die rechtlich-institutionelle Ordnung des politischen Zusammenlebens hinaus. Eine wichtige Brücke zwischen Institutionen und Verfassungskultur bildet das 1951 eingerichtete Bundesverfassungsgericht, das als «Hüter der Verfassung» (Carl Schmitt) durchaus in ihr
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