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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Zentrum gerückt ist. Nicht zufällig bietet sich auch hier der Vergleich mit dem US-amerikanischen Supreme Court am ehesten an, der gleichfalls – nur wesentlich länger, seit mehr als zwei Jahrhunderten – die Funktionen der Normenkontrolle, der individuellen Appellationsinstanz und des kulturellen Symbols für Wahrung und Expansion der Demokratie erfüllt. Denn das Bundesverfassungsgericht überprüft nicht nur, ob neue Gesetze den übergeordneten Normen des Grundgesetzes entsprechen – sei es in der föderalen Finanzverfassung oder in ethischen Streitfragen wie dem Abtreibungsrecht. Es dient auch als Instanz der bürgerlichen Beschwerde über verletzte Rechte und hat insofern die Rolle übernommen, die früher das Parlament besaß, an das sich die Bürger mit ihrem Petitionsrecht wandten. Vor Gericht als Individuum anerkannt zu werden: das ist überhaupt ein Grundzug neuen Demokratieverständnissens geworden.
    Für die Dynamik der Demokratie ist es besonders aufschlussreich, dass die Verfassungsgerichte – erneut in der Bundesrepublik ganz ähnlich wie in den USA – gleichermaßen im «konservativen» wie im «progressiven» Sinne in Anspruch genommen werden können: Sie sollen Grenzen der Verfassung gegen die Veränderungen des Zeitgeistes festhalten, aber auch die Verfassung zeitgemäß neu und expansiver interpretieren.Das Bundesverfassungsgericht ist so zum Symbol der Demokratie und zur Projektionsfläche von Erwartungen geworden, die andere Verfassungsorgane nicht mehr erfüllen können. Dabei ist seine interpretierende Rolle deutlich kleiner als die des Washingtoner Supreme Court, denn das Grundgesetz kann viel leichter verändert werden als die amerikanische Verfassung. Tatsächlich erkennt man das Ur-Grundgesetz von 1949 in einer heutigen Ausgabe nur noch mit Mühe und mit beträchtlichen historischen Vorkenntnissen. Umso bemerkenswerter ist es, dass der deutschen Verfassung als Ganzes die kulturelle Achtung einer heiligen, unverletzlichen Institution entgegengebracht wird. Der von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas ins Feld geführte «Verfassungspatriotismus» ist dafür ein wichtiges Beispiel, obwohl er vielleicht besser «Demokratiepatriotismus» heißen könnte. Darin aber zeigt sich wieder die charakteristische Überlagerung von Grundgesetz und Demokratie, die sich seit 1949 in der Bundesrepublik entwickelt hat; fast ist beides synonym geworden.
    Dennoch ist die deutsche Demokratie seit 1949 nicht alleine im Grundgesetz verankert; in mehrfacher Hinsicht nicht: Historisch und praktisch gingen ihr die Länderverfassungen voraus, in denen wiederum ein wichtiger Teil der demokratischen «Basiskultur», die kommunale Selbstverwaltung, geregelt ist. Freilich hat keine der Länderverfassungen auch nur annähernd jene kulturelle Ausstrahlung entfaltet wie das Grundgesetz; sie sind weithin unbekannt geblieben, und auch politisch Gebildete kennen meist nur einige elementare Bestimmungen über Landtag und Regierung. Mit dem Grundgesetz entstand eine funktionierende und in vieler Hinsicht außerordentlich lebhafte Demokratie. Es ist deshalb ungerecht und irreführend, von einer «formalen» Begründung der westdeutschen Demokratie im Jahre 1949 zu sprechen, als habe es sich um eine bloße Hülle ohne demokratische Praxis gehandelt. Aber tatsächlich war die demokratische Umerziehung, die «reeducation» der postnationalsozialistischen Gesellschaft, damit noch lange nicht beendet, und auch die Wähler demokratischer Parteien waren noch nicht alle zu überzeugten Demokraten geworden. So wichtig demokratische Institutionen, rechtsstaatliche Verfahren und verbürgte Grundrechte sind, beruht die freiheitliche Ordnung doch, das Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes variierend, auf Voraussetzungen, die das Grundgesetz nicht garantieren kann – und diese Voraussetzungen wuchsen erst allmählich in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten der Bonner Republik.
    Schließlich gilt auch für jüngste und zukünftige Veränderungen der Demokratie, dass sie im Grundgesetz nur unvollkommen gespiegelt sind. Von den neuen Handlungsformen der partizipativen Demokratie, wie sie sich in den letzten drei Jahrzehnten herausgebildet haben, spricht die Verfassung nicht. 1949 hat man Parteien in das Grundgesetz hineingeschrieben; inzwischen könnte dort von

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