Was ist Demokratie
auch, aber nicht nur unter dem Druck der Besatzer â verwandelte sich in ein langes Schweigen. Seit dem Ende der 60er Jahre kritisierte eine jüngere Generation diese Vergangenheitsbewältigung der Verdrängung. Dagegen vertrat der Philosoph Hermann Lübbe 1983 die These, das «Beschweigen» der NS-Vergangenheit habe die Bundesrepublik und ihre noch unsichere Demokratie sogar stabilisiert, weil sie zerreiÃende Konflikte vermieden und langsame Integration ermöglicht habe. Diese positive Wirkung wird von vielen Historikern heute durchaus anerkannt, aber sie war teuer erkauft â nicht nur mit einer schwer zu rechtfertigenden moralischen Kompromittierung, sondern auch mit handfesten Kontinuitäten des Nationalsozialismus. Dabei ging es Lübbe vor allem um die öffentlichenDebatten und das öffentliche Schweigen. Erst seit dem Ende der 1980er Jahre wurde das private Schweigen gebrochen, das in den meisten Familien über mehr als eine Generation hinweg geherrscht hatte. Kinder und Enkel stellten die lange Zeit «versäumten Fragen», was der Vater oder GroÃvater denn in Polen, der Ukraine oder Russland eigentlich getan oder gesehen hatte.
Die junge Bundesrepublik war unzweifelhaft eine Demokratie von Anfang an, aber sie war auch ein Staat und eine Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus, nach Diktatur und Holocaust. Für viele wirkte der Schock des Zusammenbruchs heilsam, und die 1933 brutal unterdrückten demokratischen und zivilgesellschaftlichen Traditionen vibrierten in den 50er Jahren wieder vor Aktivität. Eine nur auf dem Papier oder in politischen Institutionen existierende, nicht mit Leben und Gesinnung gefüllte Proto-Demokratie war die Bundesrepublik deshalb auch in ihren ersten ein oder zwei Jahrzehnten nicht. Aber autoritäre und vordemokratische Traditionen, auch unmittelbare nationalsozialistische Kontinuitäten wirkten in dieser Zeit beinahe überall fort. Es war leicht, wieder wählen zu gehen, aber in vielen Bereichen des Lebens und sogar in der Art und Weise, Politik zu betreiben, mussten die Westdeutschen Demokratie erst (wieder) lernen und taten das â teils im Stillen, teils auch konfliktreich â bis in die frühen 1970er Jahre.
Dieser Verbreiterung der Demokratie von den politischen Institutionen in die politische Kultur, ja bis in die Verästelungen des Alltags hinein: im Bildungssystem, in den Familien â hat die neuere Forschung viel Aufmerksamkeit gewidmet. Im Habitus Konrad Adenauers und seinem selbstbewussten Patriarchalismus drückte sich ein älterer, fast noch kaiserzeitlicher Politikstil aus, der in den 1960er Jahren zunehmend irritierte. Man kann darin aber auch den Weg sehen, auf dem die autoritätsfixierten Deutschen mit der demokratischen Regierungsform versöhnt wurden. Das Vertrauen auf den Staat und darauf, dass die Obrigkeit es schon richten werde, ohne dass sich wache Bürger jederzeit einschalten müssten, blieb eine weit verbreitete Grundhaltung. Im «Dritten Reich» hatte sich die deutsche Gesellschaft auf die Vision der Volksgemeinschaft, auf autoritäre Führung und nackte Gewalt gestützt â Spuren davon blieben mindestens zwei Jahrzehnte nach 1945 sichtbar, zum Beispiel in autoritär-paternalistischer Erziehung oder im Umgang mit Leben auÃerhalb der vermeintlichen Normalität: in der Heimerziehung «schwer erziehbarer» Kinder und Jugendlicher, in Sichtweisen auf Sexualität und Familie, bald auch im Kontakt mit den«Gastarbeitern», die das Wirtschaftswunderland seit dem Anwerbeabkommen mit Italien 1955 als billige Arbeitskräfte holte.
Daneben standen Vorbehalte gegenüber der Demokratie und ihren Verfahren, zum Beispiel der offenen Konfliktregulierung in Streit und Diskurs, die sich mit dem historischen Sonderbewusstsein vor allem des deutschen Bildungsbürgertums und seiner Distanz gegenüber dem Westen verknüpften. Neben der Faszination für den Westen und unbefangener Lernbereitschaft standen tiefe Ressentiments, in denen die USA, wie erneut Franz Neumann 1948 diagnostizierte, «das Land der Technik und der billigen Vergnügungen» waren, «dessen Zivilisation sich in Badezimmern und Fords ausdrückt, während Deutschland das Land der Kultur ist, Goethes und Beethovens. Demokratie ist von vielen Deutschen, insbesondere von der intellektuellen Elite, als Luxus interpretiert worden, den sich nur reiche Länder leisten
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