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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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die provokante These, ausgerechnet der Nationalsozialismus habe eine «soziale Revolution» bewirkt. Zugunsten von Volksgemeinschaft und totalitärer Kontrolle hätten die Nazis Bastionen der alten Gesellschaft zerrieben, ihre antidemokratischen «Verwerfungen» aufgelöst. Sein Kollege M.Rainer Lepsius (geb. 1928) hieb in die gleiche Kerbe: Vom 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit sei Deutschland in scharf geschiedene soziale «Milieus» – etwa der Katholiken, der Arbeiterbewegung, des protestantischen Bürgertums – zerfallen, heute würden wir von Parallelgesellschaften sprechen. Eine demokratische Gesellschaft aber muss durchlässig sein und alle Bürgerinnen und Bürger einschließen. Lepsius wies auch darauf hin, dass die Bundesrepublik mit dem westlichen Teil des Deutschen Reiches die bessere Hälfte seiner gesellschaftlichen Erbmasse erhalten habe: reicher an bürgerlich-demokratischen Traditionen, sozial ausgeglichener, befreit von der Dominanz und oft antidemokratischen Gesinnung des preußischen Adels.
    Zumal Dahrendorf ging es aber nur in zweiter Linie um die «harte» Seite des Wandels sozialer Strukturen. Seine Hauptabsicht zielte mit der gesamten Generation der «45er» auf politische Pädagogik: Die Nachkriegsdeutschen sollten aufhören, mit der Demokratie zu hadern und lieber als Demokraten Konflikte um wichtige Zukunftsfragen wie Bildung und europäische Einigung führen. Damit war ein Liberaler wie Dahrendorf von der linken Tradition der «Frankfurter Schule» nicht so weit entfernt, die zunächst über Rückkehrer aus dem amerikanischen Exil wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in die bundesrepublikanische Öffentlichkeit ausstrahlte, und dann über Jüngere wie Jürgen Habermas, für den das Nachdenken über eine demokratische Gesellschaft zu einer Lebensaufgabe wurde. Obwohl in der Mitte der 1960er Jahre neue, scharfe Konflikte aufbrachen, hatte sich doch bis dahin ein intellektuell-politischer Grundkonsens über die Demokratie etabliert, der von westlichen Neomarxisten bis zu geläuterten Konservativen reichte – und der in der deutschen Geschichte zuvor noch nie existiert hatte.
    Als öffentliche Intellektuelle wirkten solche Sozialwissenschaftler, vermittelt durch Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, im Radio oder durch Vorträge, auch unmittelbar auf ein breiteres Publikum ein. Aber auch die wissenschaftlichen Fächer wandelten ihr Selbstverständnis. Die Geschichtswissenschaft tat sich noch in den 1960er Jahren schwer, aus ihren konservativen, staatsnahen, manchmal auch demokratieskeptischen Traditionen herauszufinden; jungen und expandierendenDisziplinen wie der Soziologie und der Politikwissenschaft fiel das leichter. Zumal die Politikwissenschaft etablierte sich, mancherorts wie in West-Berlin mit kräftiger Unterstützung der Amerikaner und deutscher Rückkehrer aus der Emigration wie Ernst Fraenkel, zu einer «Demokratiewissenschaft». Sie sollte sich, angelsächsischen Vorbildern folgend, von den verschwurbelten idealistischen Traditionen trennen und empirische Forschung betreiben, dabei aber auf einen normativen Kern, auf die Verankerung in einem liberalen Verständnis von Rechtsstaat, Freiheit und Pluralismus nicht verzichten. Ähnlich lauteten die Parolen bei den Soziologen: Man müsse sich der «Wirklichkeit» annähern – das zielte auf den Abschied von Utopien und politischen Heilsversprechen. Demokratie hieß pragmatische Bewältigung der Realität, wie es der neue, «realistische» Demokratiebegriff vorgegeben hatte.
    Ein zentraler Schauplatz des Lernens von Demokratie war schließlich die Presse – sie stellte nicht nur Foren des Austauschs und Konflikts zur Verfügung, sondern etablierte sich selber als ein demokratischer Akteur. Aus der alliierten Lizenzpresse der Besatzungszeit ging eine vielfältige Landschaft von Zeitungen und Zeitschriften hervor, anfangs durchaus mit historischen Kontinuitäten: Die Parteipresse der SPD spielte dabei ebenso eine wichtige Rolle, wie in der bürgerlichen Presse Journalisten mit nationalsozialistischer Vergangenheit oder extrem rechten Positionen zunächst einflussreich weiterwirken konnten, etwa Hans Zehrer bei der «Welt» oder Richard Tüngel bei der Hamburger «Zeit». Erst nach der Trennung von Tüngel 1955 konnte sich die «Zeit» unter der

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