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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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jahrzehntelange Traumatisierung durch den sozialistischen Obrigkeitsstaat ebenso wie die Verschiebung der klassisch-repräsentativen zur partizipatorischen Demokratie im Westen seit den 70er Jahren. Aber man findet diese Spannung auch schon in Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts.
    Daneben trat die Massenmobilisierung der Leipziger «Montagsdemonstrationen», die zwischen September und November 1989 ihre Teilnehmerzahlen beinahe wöchentlich verdoppelten. Hier ertönte seit dem 9. Oktober der Ruf «Wir sind das Volk!», der den Anspruch auf Volkssouveränität und Selbstregierung als Kern der Demokratie höchst wirkungsvoll auf den Punkt brachte. Nach dem Mauerfall, genau einen Monat später, hieß es erstmals und dann immer öfter: «Wir sind
ein
Volk»: Die nationale Einheit rückte mehr in den Vordergrund, der Anschluss an die Demokratie der Bundesrepublik. Gleichzeitig jedoch schritt die innere Demokratisierung der DDR voran und suchte nach institutionellen Formen. Am 7. Dezember trat der Zentrale Runde Tisch erstmals in Berlin zusammen, an dem sich Vertreter der Bürgerbewegung und des alten Staates gegenübersaßen. Das war eine Versammlung des Übergangs, die auf die ersten und einzigen freien Wahlen zur Volkskammer, dem Parlament der DDR, hinarbeitete und sich kurz vor der Wahl vom 18. März 1990 auflöste. Auch die Dauermobilisierung in Großdemonstrationen ließ sich nicht aufrechterhalten. Demokratie als Prozess führte so in der DDR, ganz unabhängig von der Frage der Wiedervereinigung, innerhalb eines halben Jahres in ein freies parlamentarisches System und folgte damit einem langen Muster demokratischer Revolutionen.
    Seit dem Frühjahr 1990 zeichnete sich das rasche Ende der DDR immer deutlicher ab, für die eine dauerhafte Rechtfertigung als zweite Demokratie neben der Bundesrepublik nicht zu finden war. So fand die friedliche Revolution in der DDR am 3. Oktober 1990 einen Abschluss, der sich von den übrigen postkommunistischen Ländern unterschied. Für einen Teil der Bürgerbewegung bedeutete das einen schmerzlichen Abschied von ihrer Vorstellung eines eigenen Weges. Aber man muss vorsichtig sein, in der Wiedervereinigung eine Gegenrevolution – klassisch gesprochen: den «Thermidor» der Bürgerrevolution – zu sehen. Denn Enttäuschungen auf dem Weg von der demokratischen Bewegung in den demokratischen Staat blieben auch anderswo, zum Beispielin Polen, für die zivilgesellschaftlichen Akteure nicht aus; von dem jahrzehntelangen Hadern der (west-)deutschen Grünen mit dieser Frage ganz zu schweigen. Auch unterschieden sich die Verfassungsvorstellungen des überwiegenden Teils der Bürgerbewegung nur in Nuancen von der Ordnung des Grundgesetzes. Am Grundgesetz orientierte sich auch der Entwurf einer DDR-Verfassung, den eine Arbeitsgruppe des Runden Tisches Anfang April 1990 noch vorlegte. Von einer «kurzen Demokratie» zu sprechen, als hätten die Ostdeutschen die Demokratie im Herbst 1990 wieder verloren, ist deshalb erst recht irreführend.
    Insgesamt lässt sich der Übergang von 1989/90, in der DDR wie im übrigen Ostmitteleuropa, am besten als demokratische Freiheitsrevolution verstehen. Dabei stand die politische Freiheit an erster Stelle, der «Traum von Freiheit und Demokratie», den Bronisław Geremek im Rückblick als «Kern von Solidarność» bezeichnet hat. «Die Polen wussten was sie wollten, nicht nur was sie ablehnten» – das galt für die Ostdeutschen vielleicht nicht in gleicher Entschiedenheit, aber im Grunde ebenfalls. Es ging um die Abwesenheit von politischer Unterdrückung und Bevormundung, um freie Meinungsäußerung und das Recht freier Organisation in der Zivilgesellschaft und in Parteien, um Freiheit als Volkssouveränität. Aber auch andere, eher alltägliche, lebensweltliche und private Freiheiten spielten ihre wichtige Rolle, zumal in der DDR: die Freizügigkeit und Reisefreiheit mit dem Symbol der Überwindung der Mauer, sogar die Konsumfreiheit, der oft bespöttelte Wunsch nach Anteil an den materiellen Lebenschancen des Westens. Dass diese Demokratie kein Endzustand wunschlosen politischen Glücks sein würde, mussten auch im Westen viele erst noch lernen.
3 Jenseits des Nationalstaats:
Demokratie in Europa – europäische Demokratie?
    Die europäische Integration ist einer der

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