Was ist Demokratie
der Leitung des Kommissionspräsidenten (seit 2004 José Manuel Barroso) als klassische Exekutive agiert, also die Aufgaben einer europäischen Regierung wahrnimmt, darin aber mit den Staats- und Regierungschefs (im «Europäischen Rat») und den jeweiligen Fachministern (im «Rat der Europäischen Union», meist «Ministerrat» genannt) konkurriert. Der Ministerrat und die Kommission wiederum haben auch legislative Kompetenzen, und die Kommissare als Quasi-Fachminister werden weiterhin von den nationalen Regierungen benannt und im Parlament nur bestätigt. Statt klar geschnittener Verfassungsorgane mit einem Parlament als Dreh- und Angelpunkt â direkt gewählt vom Volk, seinerseits die Regierung bildend â begegnen wir also einem verwickelten Gebilde, das an Samuel Pufendorfs Charakterisierung des Heiligen Römischen Reiches als eines «ungeordneten und monsterartigen Körpers» erinnert.
Man kann darin auch weiterhin ein bedenkliches Defizit an Demokratie sehen. Doch die BewertungsmaÃstäbe haben sich verschoben, und die Realität europäischer Demokratie hat sich in den letzten zwanzig Jahren auch jenseits des klassischen Institutionengefüges entwickelt â teils gegenläufig zur nationalstaatlichen Demokratie, teils aber auch im Einklang mit deren Veränderungen. Zunächst einmal handelt es sich nicht um ein Problem der EU allein. Demokratisierung jenseits des Nationalstaats verläuft auch anderswo auf der Welt kaum in jenen Bahnen einer quasi-nationalstaatlichen Verfassung, die man bis ins späte 20. Jahrhundert weithin erwartete â einschlieÃlich der globalen Ordnung selber, etwa in den Vereinten Nationen. So lässt sich europäische Demokratie durchaus ohne ein souveränes europäisches Volk und ohne parlamentarische Regierung denken und existiert als solche auch schon in vielen Dimensionen. Seit dem Vertrag von Maastricht gibt es neben der Staatsbürgerschaft der Einzelstaaten eine (daraus abgeleitete) Unionsbürgerschaft, die den EU-Bürgern unter anderem Freizügigkeit und das kommunale Wahlrecht an ihrem Wohnort, auch auÃerhalb ihres Heimatstaates, garantiert.
Im Einklang mit nationalen Entwicklungen spielt der individuelle Rechtsschutz eine immer wichtigere Rolle â die EU ist zu einer maÃgeblichen Agentur des Grund- und Menschenrechtsschutzes geworden.Damit ist auch die Bedeutung der europäischen Gerichte für die subjektiven Rechtsansprüche der Bürgerinnen und Bürger gewachsen. Jenseits der Europäischen Union ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, eine Institution des 1949 gegründeten Europarats (mit seinen heute 47 Mitgliedsländern), zur zentralen Instanz dieser «justiziellen Demokratie» geworden, seit 1998 das Recht auf Individualbeschwerde eingeführt wurde. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann sich unmittelbar und individuell an das StraÃburger Gericht wenden, wenn er oder sie sich in Rechten verletzt sieht, die die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert. Und schlieÃlich funktioniert gerade die komplizierte Verschachtelung der europäischen Institutionen, auch wenn ihre je einzelne demokratische Legitimation teilweise nur indirekt und vom Bürger weit entfernt ist, als ein System von «checks and balances», das autoritärer Konzentration und Exekution von Macht immer wieder effektiv entgegenwirkt.
So wird man sich die weitere Entwicklung europäischer Demokratie eher als eine Fortsetzung solcher postklassischen Tendenzen vorstellen müssen, ohne dass damit die Möglichkeit klassischer Demokratisierung ganz ausgeschlossen ist. Sie könnte aus einer tiefen Krise hervorgehen, die mit einem Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten und einer Parlamentarisierung europäischen Regierens gelöst würde â aber das bleibt eher unwahrscheinlich. Viel länger als vor ein oder zwei Generationen geglaubt, dauert die Herausbildung einer politischen Identität Europas; Ralf Dahrendorf hat noch vor zehn Jahren gemeint, er sehe für die Entstehung eines europäischen Patriotismus keine Anzeichen. Kurz darauf hat Jürgen Habermas, ein anderer prominenter Pro-Europäer, in den transnationalen Protesten der Friedensbewegung gegen den amerikanischen Irak-Krieg Anfang 2003 die Geburtsstunde einer «europäischen Ãffentlichkeit» gesehen â und das mit der Publikation ebendieser
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