Was ist Demokratie
mächtigsten Prozesse in der globalen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, doch zugleich sind Ziel und Richtung dieses Prozesses unsicher geblieben, bis in die tiefe Krise von Staatsschulden und gemeinsamer Währung im Jahre 2011 hinein. Gerade in Deutschland gingen viele davon aus, die europäische Einigung werde â langsam, aber doch unaufhaltsam â in einen gemeinsamen Bundesstaat führen, in «Vereinigte Staaten von Europa». In den 1970er und 80er Jahren entsprach das der ohnehin beschädigten nationalenIdentität der staatlich geteilten Deutschen ebenso wie der Fixierung auf das Vorbild der USA in der Bundesrepublik. Die Erwartung speiste sich aber auch aus der deutschen Tradition des Föderalismus und der historischen Erfahrung der Reichseinigung im 19. Jahrhundert: Musste man nicht die Nationsbildung, im staatsrechtlichen Akt von 1871 ebenso wie im inneren Zusammenwachsen souveräner Staaten und selbstbewusster «Stämme», nur eine Ebene höher europäisch wiederholen? Diese Vision dachte eine politische Verfassung des europäischen Bundesstaates mit, die irgendwo zwischen Grundgesetz und amerikanischer Verfassung angesiedelt sein würde: eine föderal verfasste parlamentarische Demokratie mit gemeinsamer Staatsbürgerschaft und kultureller Identität, in der die bisherigen Nationen die Rolle von Gliedstaaten spielen.
In den folgenden zwei Jahrzehnten, zwischen dem Vertrag von Maastricht von 1992 und dem Vertragsschluss von Lissabon 2007, ist Europa auf dem Weg zu einer politischen Union ein beträchtliches Stück vorangekommen, aber ein europäischer Bundesstaat ist auf absehbare Zeit unwahrscheinlich geworden. Der Fall des Eisernen Vorhangs hat das ursprünglich westeuropäische Projekt zwar gesamteuropäisch erweitert, aber mit inzwischen 27 Mitgliedstaaten auch heterogener gemacht. Nationale Vorbehalte sind gewachsen. Und die Vorstellung, die nationale Demokratie durch eine europäische zu überwinden, die dennoch den nationalstaatlichen Bauplan mehr oder weniger kopiert, hat an Glaubwürdigkeit verloren, da die klassische repräsentative Demokratie auch sonst nicht mehr als alleiniger Königsweg des politischen Fortschritts gilt. So waren die Vereinigten Staaten von Europa vermutlich nur das Leitbild einer Ãbergangszeit.
Denn auch am Anfang der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg standen andere Ziele. Ein drittes Mal sollten die europäischen Nationen sich nicht in Krieg und Gewalt zerfleischen, und dafür galt es nicht zuletzt, den Unruheherd eines mächtigen Deutschland einzubinden. Dieses Motiv trieb besonders die Franzosen und daneben die Beneluxländer an: die zweimaligen Opfer deutscher Ãberfälle im 20. Jahrhundert. Für die Westdeutschen bot die europäische Karte die Option auf eine Rückkehr als geachtetes Mitglied der Staatengemeinschaft, und die Chance einer Anbindung an den «Westen», ohne sich allzu einseitig dem übermächtigen Amerika auszuliefern. In der unmittelbaren Nachkriegszeit stand Europa nicht zuletzt für die moralische Einsicht in das Versagen des Nationalstaates und die Pervertierung desNationalismus. Am Anfang stand die Friedenssicherung; damit gewiss auch die Zurückweisung von Diktatur, aber nicht die Blaupause für eine europäische Demokratie. Es ging um die Verbindung von Demokratien, die sich zu einem gemeinsamen Wertefundament bekannten, in einem «Europa der Vaterländer», wie es der französische Staatspräsident Charles de Gaulle 1962 nannte. Schon ein gutes Jahrzehnt früher definierten Robert Schuman als AuÃenminister Frankreichs und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Verflechtung als praktisches Handlungsfeld der Friedenssicherung. Der erste Schritt war die «Montanunion», offiziell die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), von 1952. In den Römischen Verträgen vom 25. März 1957 errichteten dieselben sechs Staaten â neben Frankreich und der Bundesrepublik noch Italien und die Beneluxländer â die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Daneben trat die Kooperation in Wissenschaft und Forschung, die vom EURATOM-Vertrag weiter in die Weltraumforschung der 60er und 70er Jahre führte.
Den mit den Römischen Verträgen ebenfalls geschaffenen politischen Organen wurde zunächst wenig Beachtung geschenkt,
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