Was ist Demokratie
Diagnose, gemeinsam mit anderen Intellektuellen, in führenden europäischen Zeitungen zu bekräftigen versucht. Zweifellos sind die Grenzen der politischen und kulturellen Debatten durchlässiger geworden, aber die nationale Rahmung lässt sich, auch angesichts der Sprachenvielfalt, immer noch schwer überwinden. Auch wird eine Entgrenzung nationaler Ãffentlichkeiten, etwa in der transnationalen Zivilgesellschaft oder im Internet, schwerlich an den Grenzen der Europäischen Union haltmachen.
So wird man im Rückblick auf die letzten sechzig Jahre, und sogar bis heute, den vielleicht wichtigsten Beitrag der Europäischen Integrationzur Demokratie nicht in ihrer eigenen demokratischen Verfasstheit, sondern in ihrer Sicherung und Förderung eines Europas der demokratischen Nationalstaaten sehen können. Das führt auf die Gründungsmotive zurück: die Bewahrung des Friedens auf dem von Krieg und Völkermord dreiÃig Jahre lang zerrütteten Kontinent in einer Gemeinschaft des Vertrauens zwischen Demokratien. Zunächst ging es um die Einbindung Deutschlands nach der Herrschaft des Nationalsozialismus, seit den 1970er Jahren um die Stabilisierung der neuen südeuropäischen Demokratien Griechenlands, Portugals und Spaniens. Zu Europa zu gehören war auch aus wirtschaftlichen Gründen attraktiv â und warum nicht? â, dazu jedoch mussten Kriterien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, des Grundrechtsschutzes erfüllt werden. Nach den Umbrüchen von 1989/90 setzte sich diese Entwicklung mit dem Beitritt der postkommunistischen Staaten Osteuropas fort und ist auf dem Balkan, in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, noch nicht abgeschlossen. Nirgendwo hat die Europäische Union eine Diktatur gestürzt und eine Demokratie errichtet, aber immer wieder als Magnet und Stabilisierungsanker der Demokratie gewirkt. So könnte es in einem nächsten Schritt auch mit der Türkei sein.
4 Die Macht der Verbraucher und der
Aufstieg des Konsumbürgers
Politische Ãberzeugungen kann man nicht nur an der Wahlurne äuÃern, sondern auch mit einer Kaufentscheidung im Supermarkt zum Ausdruck bringen. Politischer Druck geht nicht nur von einer Petition oder einer Demonstration aus, sondern auch vom Boykott bestimmter Waren oder Händler. Konsumenten sind der kapitalistischen Marktgesellschaft und ihrer Verführung durch die Werbung nicht hilflos ausgeliefert, sondern üben selber Macht aus, indem sie für bestimmte Produkte Geld ausgeben und sich anderen verweigern â zum Beispiel einem Kleidungsstück, das von Kindern hergestellt wurde oder einer Gartenbank, deren Holz nicht aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt. Sie können sich darüber hinaus politisch organisieren, etwa einer Organisation anschlieÃen, die Interessen von Bahnkunden vertritt, oder einer Elterninitiative, die den Speiseplan der Schulmensa verbessern will. Seit etwa zwei Jahrzehnten ist das Bild des manipulierten und entmündigten Verbrauchers blasser geworden, in der Ãffentlichkeit ebenso wie inder Wissenschaft. Im Gegenzug haben Konflikte um den Konsum einen zentralen Platz in den politischen Auseinandersetzungen westlicher Gesellschaften erobert. In England und besonders in Amerika spricht man inzwischen vom «citizen consumer», während sich im deutschen Sprachgebrauch der «Konsumbürger» noch nicht etabliert hat. Darin spiegeln sich historische und kulturelle Unterschiede, und nicht zuletzt ökonomische Realitäten: Der Anteil des privaten Konsums am Bruttoinlandsprodukt der USA liegt mit 70 Prozent etwa zehn Punkte höher als in Deutschland, das auch im europäischen Vergleich mehr eine Produktionsökonomie geblieben ist. Dennoch haben sich das Selbstbewusstsein der Konsumenten und ihre politische Artikulation seit den 1980er Jahren auch hier erheblich verstärkt.
Ein neues Phänomen ist das freilich nicht, denn schon seit vielen Jahrhunderten stehen Politik und privater Konsum in einer engen Beziehung. Ãffentliches Handeln und Bürgeridentität einerseits, der Erwerb von Gütern oder die Sicherung der alltäglichen Versorgung andererseits überschnitten sich in intellektuellen Debatten ebenso wie in handfesten Konflikten und gewaltsamen Unruhen. In der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit regulierten sogenannte «Aufwandsordnungen», wie luxuriös man sich kleiden und darstellen durfte, ohne die
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