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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Grenzen des eigenen Standes, und damit des Ranges in der Gesellschaft, symbolisch zu verletzen. Die politische Theorie konstruierte, im Rückgriff auf antike Ideale, ein Spannungsverhältnis des tugendhaften, für das Gemeinwohl engagierten Bürgers zu Gewerbe, Handel und Luxus, die den Bürger in seiner selbstlosen Verfolgung des gemeinen Besten ablenkten und korrumpierten. Auch in religiösen Weltbildern spielte der Konsumverzicht oft eine wichtige Rolle. Berühmt ist die calvinistische Askese, die Max Weber vor gut hundert Jahren als geistige Keimzelle des modernen Kapitalismus beschrieben hat. Viel unmittelbarer trafen Politik und Konsum in städtischen Unruhen des 18. und 19. Jahrhunderts aufeinander, wenn Männer und Frauen angesichts steigender Lebensmittelpreise und hungernder Familien Vorratslager stürmten oder einen Bäckerladen ausplünderten. Jenseits der unmittelbaren Not wollten sie damit zeigen, dass es in der Gesellschaft nicht gerecht zuging; dass Getreide und Brot zu einem fairen Preis gehandelt werden müssten. Auch die ethische Aufladung, die heute eines der wichtigsten Merkmale von Konsumpolitik ist, reicht also weit in die Geschichte zurück, ebenso wie das besondere Engagement von Frauen in dieser Arena, in der sich private Sorge und öffentliches Handeln eng berühren.
    Ihren eigentlichen Anfang nahm die moderne Konsumpolitik in den westlichen Ländern aber erst um 1900, also auf dem Boden der klassischen Industriegesellschaft und der explodierenden Großstädte. Die soziale Frage der Arbeiterschaft überlappte sich mit neuen Formen der politischen Organisation in Gewerkschaften und Interessenverbänden. Die Produktionsverhältnisse in den Fabriken – Kinderarbeit, Zehn- oder Zwölfstundentage, ungesunde und gefährliche Arbeitsplätze – forderten zu Protest und Reformen heraus, bei denen auch Konsumenten als Akteure und als «stakeholders», das heißt: als Betroffene und Interessenten, in Erscheinung traten. In Deutschland besetzte die Arbeiterbewegung, vor allem die SPD und die Freien Gewerkschaften mit ihren Millionen Mitgliedern und ihrer straffen Organisation, schon in der Zeit des Kaiserreichs und dann auch in der Weimarer Republik das Feld der Konsumpolitik. Konsumgenossenschaften sollten mit ihren eigenen Läden die preisgünstige Versorgung der großstädtischen Arbeiterschaft mit Nahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs decken; sie standen aber auch für politische Ziele wie Freiheit und Selbstbestimmung.
    In den USA dagegen spielten Interessengruppen der bürgerlichen Sozialreform eine wichtigere Rolle, und einer längeren Tradition entsprechend engagierten sich Frauen an vorderster Front einer Konsumpolitik für die ärmeren Schichten. Florence Kelley aus Philadelphia leitete mehr als drei Jahrzehnte die 1899 gegründete «National Consumers League» (die bis heute als Konsumentenverband aktiv ist). Ganz ähnlich wie in heutigen Debatten über Kinderarbeit in Asien oder Ölgewinnung in Nigeria war Verbraucherpolitik mit Produktions- und Arbeitsplatzbedingungen eng verknüpft. Florence Kelley kämpfte gegen Kinderarbeit und «Sweatshops», indem sie die Konsumenten gegen so hergestellte Produkte zu mobilisieren versuchte. Die National Consumers League verlieh dafür ein weißes Qualitätssiegel, das den Käufern die medizinisch und moralisch einwandfreie Herstellung etwa von Textilien garantierte. Wachsender öffentlicher Druck ließ im frühen 20. Jahrhundert auch den Staat zum Akteur der Konsumpolitik werden. Upton Sinclair stellte in seinem Roman «The Jungle» 1906 die menschenverachtenden und unhygienischen Verhältnisse in den Schlachthöfen Chicagos schonungslos dar und beförderte damit schärfere staatliche Kontrollen auf der Grundlage moderner Lebensmittelgesetze. Und im «New Deal» der 1930er Jahre entwarfen Berater von Präsident Roosevelt wie der Soziologe Robert Lynd den selbstbewusstenKonsumenten als notwendiges Gegengewicht zu den Interessen der produzierenden Wirtschaft. Sie maßen dem Konsumbürger eine entscheidende Rolle nicht nur für die Überwindung der Wirtschaftskrise, sondern geradezu als Garant einer lebensfähigen Demokratie zu.
    Trotz der tiefen Krise: Diese Aufwertung des Konsumenten reflektierte schon den Durchbruch des neuen Typs einer Massenkonsumgesellschaft im Amerika der

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