Was ist Demokratie
1920er Jahre. In Westeuropa kam dieser Schub, nicht zuletzt durch die Amerikaner vermittelt, in der Nachkriegszeit der 50er und 60er Jahre an. Ludwig Erhard, Inkarnation des westdeutschen Wirtschaftswunders, forderte «Wohlstand für alle»; mit ihm verstanden viele den Konsum geradezu als demokratisches Grundrecht und als konkret erlebbare Freiheitschance. In der Motorisierung mit Zweirädern, dann mit PKWs verband sich Konsum mit Individualisierung. Markt- und Meinungsforschung interessierten sich für den Konsumenten und sezierten seine Präferenzen mit sozialwissenschaftlichen Methoden, zum Beispiel in der Nürnberger «Gesellschaft für Konsumforschung» (GfK), die inzwischen zum globalen Giganten ihrer Branche aufgestiegen ist. Das war ambivalent: Einerseits wurden die Verbraucher zu Objekten immer ausgeklügelterer Marketingstrategien, andererseits galten sie als mächtige Akteure, auf deren Stimme die Hersteller und Händler hören mussten. Im Jahre 1964 etablierte die Bundesregierung die «Stiftung Warentest», die mit ihren Testberichten und deren durchschlagender Wirkung geradezu zum Synonym für Konsumentenmacht in Deutschland geworden ist.
Obwohl soziale Unterschiede im Boom der Nachkriegsjahrzehnte keineswegs verschwanden, faszinierte die Erfahrung eines egalisierenden Konsums, wie sie der Popkünstler Andy Warhol pointiert, und gar nicht sehr ironisch, formulierte: «Du siehst fern und trinkst Coca-Cola, und du weiÃt, dass der Präsident Coke trinkt, dass Liz Taylor Coke trinkt, und stell dir vor, auch du trinkst Coke. Eine Coke ist eine Coke und kein Geld der Welt kann dir eine bessere Coke kaufen als die, die auch der Penner an der Ecke trinkt.» In einer Sozialpolitik jenseits der unmittelbarsten Existenzsicherung etablierte sich ein «Warenkorb», dessen Inhalt nicht nur den Hunger stillen, sondern den Ãrmeren ein Mindestmaà an Teilhabe und Integration sichern sollte. In der jüngsten Diskussion um Demokratie und Gerechtigkeit ist dieser Nexus von Konsumchancen und Inklusion sogar noch mehr als früher betont worden.
Dagegen stand in der Nachkriegszeit jedoch immer eine sehr kritische Position, die im Massenkonsum genau das Gegenteil von Freiheitund Partizipation sah. In ihrer «Dialektik der Aufklärung» prangerten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die manipulative Wirkung des Massenkonsums im fortgeschrittenen Kapitalismus an; andere Vertreter der Kritischen Theorie wie Herbert Marcuse sahen das ähnlich: Der Konsum stelle die Menschen ruhig, zerstöre ihre Individualität im Konformismus der Massenprodukte und Massenmedien und mache sie unpolitisch. Demokratie konnte sich demnach in der Rolle des Konsumenten nicht vollziehen; sie musste vielmehr im Widerstand gegen den Massenkonsum gesucht werden. Auch wenn diese Sichtweise am Ende der 1970er Jahre ihren Höhepunkt überschritten hatte, prägt sie die politische Konsumentenbewegung bis heute nachhaltig: nämlich in ihrer konsumkritischen, antihedonistischen und «postmateriellen» Orientierung.
Um 1960 entdeckten die neuen sozialen Bewegungen den Konsum als Handlungsfeld des gewaltfreien Protests, besonders in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Dabei stand nicht der Boykott an erster Stelle, sondern geradezu das Gegenteil: das Begehren, als Konsument gleich behandelt und damit symbolisch in die demokratische Gemeinschaft aufgehoben zu werden. Schwarze Studenten wollten an der Essenstheke bedient werden ohne Ansehen der Hautfarbe. Dass der Konsumboykott ein Instrument des brutalen Ausschlusses aus der Gemeinschaft sein kann, hatten in Deutschland die Nazis vorgeführt, beginnend mit der organisierten Boykottaktion gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933. Neuere Formen des Boykotts bestimmter Händler oder Unternehmen oder von Waren einer bestimmten Herkunft zielten am Ende des 20. Jahrhunderts zwar sehr wohl auf eine symbolische Stigmatisierung, aber nicht auf die Ausgrenzung von Bürgerinnen und Bürgern. Das Ziel war vielmehr â wie in den Boykotten gegen südafrikanische Produkte während des Apartheid-Regimes â gerade die Ãberwindung von rassischer Ausgrenzung und undemokratischen Verhältnissen in anderen Teilen der Welt. Ãberhaupt rückten globale Gerechtigkeitsfragen seit den 70er Jahren ins Zentrum der Konsumpolitik, auch wenn diese, wie in den Anfängen des «fairen Handels» mit Kaffee
Weitere Kostenlose Bücher