Was ist Demokratie
Familie, wo der Vater nicht mehr in knappen Worten bestimmte, oder unter Freunden, die alles bereden mussten, oder in der Politik, wo Debatten in der neuen Partei der «Grünen» kaum ein Ende finden konnten. Von einer «dezentrierten Gesellschaft» spricht Habermas, die dem diskursiven Verständnis von Demokratie entspreche. Und gerade in jüngster Zeit drückt sich der Wunschnach einer breiten gesellschaftlichen Konsensfindung, jenseits eines parlamentarischen Mehrheitsbeschlusses, immer öfter in Mediations- oder Schlichtungsverfahren aus wie 2011 im Konflikt um das Verkehrs- und Städtebauprojekt «Stuttgart 21».
Dennoch ist das Konzept der deliberativen Demokratie nicht unwidersprochen geblieben. Man kann es, wie gerade skizziert, als Anpassung der Theorie an eine veränderte demokratische Realität verstehen â und trotzdem fragen, ob es den praktischen Vollzug von Politik einfängt oder nicht vielmehr von sehr idealisierten Annahmen ausgeht. Begegnen sich die Bürgerinnen und Bürger so frei und zwanglos, wie es Habermas gerne sehen möchte; sind nicht die Chancen des Zugangs und der Teilhabe, trotz formal gleicher Voraussetzungen, sehr unterschiedlich verteilt: nach Bildung, Herkunft, sozialer Schichtzugehörigkeit? Verläuft der Diskurs â gerade in der Politik â tatsächlich so, dass egoistische Eigeninteressen hinter der allgemeinen Vernunft zurückstehen müssen und im Laufe der rationalen Diskussion ausgesiebt werden, bis ein Ergebnis der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit feststeht? Ist es, selbst wenn es möglich wäre, überhaupt wünschenswert, sich auf einen Konsens hin zu verständigen und die Pluralität unterschiedlicher Standpunkte dabei hinter sich zu lassen? Gerade die Deutschen, so ist in der Nachkriegszeit oft argumentiert worden, hätten sich seit dem 19. Jahrhundert oft allzu schnell eine allgemeine Ãbereinstimmung im Konsens herbeigewünscht und das konflikthafte Aufeinandertreffen von Ãberzeugungen und Interessen vermieden, ja sogar als Element einer westlich-demokratischen Kultur verschmäht. Freiheit komme im Konflikt zum Ausdruck, nicht im Konsens, und Demokratie lebe von Konflikten in einer pluralistischen Gesellschaft, hielt deshalb Ralf Dahrendorf, liberaler intellektueller Gegenspieler von Jürgen Habermas, seinen Landsleuten seit den 1960er Jahren immer wieder vor.
Aus ganz anderer Perspektive hat die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe in den letzten zehn Jahren die deliberative Demokratie scharf kritisiert. Sie blickt nicht, wie Dahrendorf, aus der liberalen Mitte auf den (moderaten) Linken Habermas, sondern wirft diesem in neomarxistischer Tradition die Vernachlässigung der realen Machtverhältnisse vor, in denen sich herrschaftsfreier Diskurs nicht entfalten könne. Für ihr konflikt- und kampforientiertes Verständnis von Politik nimmt sie sogar Carl Schmitt zum Vorbild, den deutschen Vordenker von Liberalismus- und Demokratiekritik auf der radikalen Rechten. Politik sei immer Kampf, auch in der Demokratie, und dürfenicht mit angewandter Ethik verwechselt werden. Denn es geht nicht um die gemeinsame Findung richtiger und vernünftiger Positionen, sondern um die Verteilung von Macht in asymmetrischen Situationen. Auch die liberale Vorstellung eines pluralistischen Interessenkonflikts auf gleichsam neutralem Terrain sei realitätsblind. In jeder Gesellschaft gebe es eine Vormachtstellung herrschender Kräfte, eine «Hegemonie», wie es im Anschluss an den italienischen Marxisten Antonio Gramsci heiÃt. Die davon an den Rand gedrängten schwachen, unterdrückten, ausgegrenzten Kräfte können sich nicht in einen rationalen Diskurs begeben; sie müssen aufbegehren, um die Verhältnisse der Hegemonie zu verändern. Man kann Mouffe wiederum dafür kritisieren, dass sie von der starren, letztlich Marxschen Vorstellung antagonistischer Verhältnisse nicht loskommt, von einer Entgegensetzung von Herrschenden und Beherrschten, die den komplizierten Verhältnissen westlicher Gesellschaften schon lange nicht mehr entspricht. Gleichwohl erinnert sie daran: «Eine gut funktionierende Demokratie erfordert den lebhaften Zusammenstoà politischer Positionen.»
Man kann aber auch Gemeinsamkeiten zwischen Habermas und Mouffe, zwischen der deliberativen Demokratie und dem «agonistischen Pluralismus» entdecken. Beide folgen einem
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