Was ist Demokratie
Sinne einer Verpflichtung auf die gemeinsamen Interessen; ihnen wohnt eine solidarische Grundhaltung inne. Aber mit dem Liberalismus warnt Habermas zugleich vor überfrachteten Erwartungen an den tugendhaften Bürger und besteht auf dem Eigengewicht von Institutionen, und damit eines demokratischen Staates, der seine Bürgerinnen und Bürger auch in der Privatsphäre schützt, statt sie nur für ein ethisch-politisches Gemeinwohl in Anspruch zu nehmen. Zwischen den liberalen Institutionen einerseits, der republikanischen Volkssouveränität andererseits steht die kommunikative Vernunft, die sich in den deliberativen Verfahren der Demokratie entfaltet. Damit kommt Habermas auch zu einer salomonischen Entscheidung im Streit um den Vorrang privater und öffentlicher Sphäre: Private (also liberale) und politische (also republikanische) Autonomie sind gleichermaÃen fundamental und aufeinander bezogen. Als negativen Beleg führt er totalitäre Regime des 20. Jahrhunderts an, die nicht nur die politische Freiheit der Partizipation zerstörten, sondern auch in die Privatsphäre eindrangen und zugleich die Zivilgesellschaft lahmlegten.
In den Worten von Jürgen Habermas klingt das alles sehr abstrakt, so dass dahinter fast nur für Experten auch die konkrete Praxis von Demokratie, mit ihren Veränderungen in jüngster Zeit, aufscheint. «Die administrativ verfügbare Macht verändert ihren Aggregatzustand», schreibt Habermas etwa, «solange sie mit einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung rückgekoppelt bleibt, welche die Ausübung politischer Macht nicht nur nachträglich kontrolliert, sondern in gewisser Weise auch programmiert.» Oder er spricht von der politischen Ãffentlichkeit als einer «Kommunikationsstruktur, die über ihre zivilgesellschaftliche Basis in der Lebenswelt verwurzelt ist». Das soll heiÃen: Der anonyme, bürokratische Staat öffnet sich in eine echte Demokratie, wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht nur alle vier Jahre wählen gehen, sondern auch zwischendurch ihre Forderungen an Parlament und Regierung herantragen,so dass die staatlichen Organe die Wünsche der Bürger beständig in sich aufnehmen können. Hinter der Theorie wird also eine Wunschvorstellung, aber auch eine praktische Veränderung von Demokratie deutlich, die sich in den letzten Jahren vollzogen hat. Die Ãbertragung von Macht an Repräsentanten genügt nicht mehr; Abgeordnete und Regierung werden nicht erst am Wahltag, am Ende der Legislaturperiode, zur Rechenschaft gezogen, sondern müssen sich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern permanent rechtfertigen; und nicht nur summarisch, sondern für einzelne Positionen und Entscheidungen. Es besteht Verantwortlichkeit: «accountability». Zugleich organisieren sich die Bürger zwischen den Wahltagen in Initiativen, klagen vor Gericht gegen politische Entscheidungen, demonstrieren gemeinsam auf der StraÃe und setzen die Institutionen damit unter Druck. Solche für die postklassische Demokratie charakteristischen Prozesse bildet Habermasâ Konzept einer deliberativen Demokratie also ab, ohne dass es die Bedeutung von Rechtsstaat und Parlament, von Regierung und verbindlichen Entscheidungen damit geringschätzt.
Der deutliche Akzent auf Kommunikation, Verständigung und Diskurs spiegelt noch andere, ebenso fundamentale Veränderungen in der Praxis von Demokratie, die für die Bundesrepublik bis in die Nachkriegszeit der 50er und 60er Jahre zurückreichen. Angeleitet von amerikanischen Vorbildern, lernten die Westdeutschen damals zu diskutieren und Meinungsunterschiede auszutragen; sie lernten zu widersprechen und überwanden damit die antrainierten autoritären Mechanismen von Befehl und Gehorsam. Werner Höfers «Internationaler Frühschoppen», am Sonntag mittags im ARD-Fernsehen, stieg schon in der Mitte der 50er Jahre zu einer Ikone der neuen Diskussionskultur auf. In den 60er und 70er Jahren dehnte sich, von den Jugend- und Protestbewegungen ausgehend, die Lust am Diskutieren in die privaten und lebensweltlichen Verhältnisse aus â und wirkte von hier aus wieder in den Kommunikationsstil von Ãffentlichkeit und Politik zurück. An die Stelle einer vornehmlich vertikalen und zentralisierten Kommunikation trat die horizontale Vernetzung einer Gesellschaft im ständigen Gespräch miteinander â ob in der
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