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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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anwaltschaftliche Demokratie wird man trotzdem nicht sprechen können. Ein eigener Regimetyp, eine eigenständige Verfassungsordnung hat sich nicht etabliert, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass eine solche Ordnung vielfältiger und «chaotischer» aussehen könnte als das relativ klar zugeschnittene klassische Ensemble demokratischer Institutionen. Aus dessen Perspektive kann man auch von einer Herausforderung sprechen, von alten Fragen, die unter den Bedingungen des späten 20. Jahrhunderts neu aufgeworfen wurden: Welche Berechtigung haben individuelle Interessen; und ist das Gemeinwohl mehr als eine moralisch überhöhte Fiktion? In vielen aktuellen Konflikten ist nicht leicht auszumachen, wer das «Gemeinwohl» – oder jedenfalls: die höherwertigen kollektiven Güter – vertritt. Man kann an den Streit um einen Flughafenausbau denken: Vertritt die anwaltliche Bürgerdemokratie des Protests das allgemeine Interesse an Lärmschutz und Naturerhaltung gegen wirtschaftliche und elitäre Sonderinteressen?Oder sperren sich wenige Betroffene im egoistischen Kalkül und nach dem «St. Florians-Prinzip» gegen ein allgemeines Interesse oder den Mehrheitsbeschluss eines Parlaments?
    In jedem Fall ist die repräsentative Demokratie nicht mehr die, die sie bis in die 1970er Jahre gewesen ist. Parlament und Regierung mögen nicht viel anders arbeiten als früher und weiter ihre Entscheidungen treffen. Oft aber steht solche Entscheidung unter dem Vorbehalt einer zweiten demokratischen Prüfung, unter dem Erfordernis einer verdoppelten Legitimation: Gesellschaftlich akzeptabel wird sie erst dann, wenn zusätzlich ein Mediationsverfahren einen Konsens erarbeitet oder ein Gericht ein Urteil spricht oder auch eine Volksabstimmung abgehalten wird. Ob die neuen Mechanismen den Willen einer Mehrheit ausdrücken, oder ob die partizipatorische, anwaltschaftliche und justizielle Demokratie eher dem Kriterium des Bürgerschutzes als dem der Repräsentativität genügt, ist eine offene Frage; am Bedeutungsverlust der klassischen Demokratie ändert das aber nichts. Die strahlende Heldin der Freiheit steht nun häufig als hässliche Gestalt der Obrigkeit da. Kein Grund zur Klage, kein Grund zur Schadenfreude – nur ein Indiz für die unablässige Dynamik der Demokratie.
9 Von der klassischen zur multiplen Demokratie
    Manche Etappen in der Geschichte der Demokratie lassen sich klar benennen, wenn nicht sogar präzise auf einer Zeitleiste eintragen. So ist es häufig – nicht immer – beim Wandel von Regimeformen und Verfassungen, beim Übergang aus der Monarchie in eine Republik, von einer Diktatur in ein freies parlamentarisches System. Auch die zunehmende Einbeziehung der erwachsenen Bevölkerung in volle politische Rechte gehört dazu: die Abschaffung eines Wahlzensus oder die Einführung des Frauenstimmrechts. Die Veränderungen der letzten Jahrzehnte, etwa seit dem letzten Viertel des 20.Jahrhunderts, gehören nicht dazu – jedenfalls nicht die inneren Veränderungen solcher Staaten, die bereits zu den «etablierten» Demokratien gehörten. Haben die Amerikaner, die Briten, die Westdeutschen, um das berühmte Wort von Willy Brandt wieder aufzugreifen, seitdem «mehr» Demokratie gewonnen? Oder sind sie eher «anders» demokratisch geworden? Jedenfalls ist Demokratisierung seit den 1970er Jahren nicht einer breiten Trasse in den Fortschritt gefolgt, sondern hat viele verschiedene, auseinanderlaufendeund sich überkreuzende Wege eingeschlagen. Und ihre Ziele sind unsicher geworden, während man sie damals noch ziemlich klar zu kennen glaubte.
    Trotz dieser Vielfalt und Unübersichtlichkeit – die verschiedenen Dimensionen des jüngeren demokratischen Wandels überlappen sich vielfach und beeinflussen sich wechselseitig. Die Entdeckung einer «Zivilgesellschaft» hat den scheinbar saturierten westlichen Demokratien Impulse aus dem spätkommunistischen Osteuropa vermittelt – und umgekehrt die westliche Protest- und Bürgerdemokratie dort als subversive Kraft etabliert. Die europäische Einigung hinkt mit ihren Institutionen dem Muster einer nationalstaatlichen Demokratie hinterher, wirkt aber gleichzeitig als mächtige Triebkraft im Ausbau von Grundrechten, für bürgerliche Freiheitsrechte gegenüber dem Staat und für die justizielle Demokratie. Die neue Rolle des

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