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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Wohlstand und Rechte der Ärmeren einzusetzen, sich also als deren Sprecher und Anwalt zu verstehen. Das Grundmuster solcher anwaltschaftlichen Politik in der Zivilgesellschaft entstand schon im 19. Jahrhundert, als bürgerliche Sozialreformer sich gegen das Elend der Arbeiterklasse engagierten oder Angehörige der weißen Mittelklasse als Abolitionisten gegen die Sklaverei kämpften, durchaus auch in transnationalen Zusammenhängen. Am Ende des 20. Jahrhunderts kehrte es zurück und breitete sich aus wie nie zuvor.
    Ein wichtiger Grund dafür sind gewachsener Wohlstand und soziale Sicherheit des Westens, die den Blick freier für die Nöte anderer machten und eine Orientierung auf «postmaterielle» Werte förderten. So traten vermehrt umweltpolitische Fragen neben Entwicklungspolitikund Menschenrechte, und das anwaltschaftliche Prinzip erweiterte sich: Jetzt engagierte man sich nicht nur für andere Menschen, sondern sprach im Namen der vom Menschen gefährdeten natürlichen Umwelt, die erst recht über keine eigene Stimme verfügte. Zugleich verlängerte sich die Fürsprache in die Zukunft, im Sinne eines Eintretens für die Lebenschancen der – ebenfalls noch nicht sprachfähigen – nächsten Generationen. Zuletzt gewannen um die Jahrtausendwende Themen des Verbraucherschutzes, besonders der Lebensmittelsicherheit, ein großes Gewicht. In der Konstellation dieser drei Felder: Menschenrechte, Umwelt, Verbraucherschutz, tritt das Spektrum anwaltschaftlicher Politik geradezu idealtypisch hervor: als eigenes Engagement für schwächere Dritte, für die Natur als Lebensgrundlage späterer Generationen, aber auch für die Sicherheit und moralische Integrität der eigenen Lebensführung.
    Dieses Muster unterscheidet sich, bei vielen Überlappungen im Einzelnen, von der Interessenpolitik in der klassischen Demokratie und Industriegesellschaft: Dort war die Produktionssphäre, der industrielle Arbeitsplatz der Ausgangspunkt für die Verfolgung eigener Interessen, zumeist in gut organisierten Massenverbänden wie Parteien und Gewerkschaften. Aber auch gegenüber den sozialen Bewegungen der 1960er und 70er Jahre hat sich die kulturelle Orientierung nochmals verschoben. Stand damals die eigene Autonomie im Vordergrund, das Streben nach freier Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, nach individueller «Selbstverwirklichung», spielen seitdem die Chancen anderer, oder einer Allgemeinheit, eine größere Rolle. Das spiegelt sich auch in einem veränderten Organisationstypus. NGOs, zivilgesellschaftliche Gruppen und anwaltschaftliche Akteure können sich in ganz unterschiedlichen Rechtsformen zusammenschließen. In Deutschland sind es häufig Vereine, oder Stiftungen, oder gemeinnützige GmbHs; unter Einschluss der Kirchen reicht das Spektrum bis zu Körperschaften des öffentlichen Rechts. Kaum jedoch handelt es sich um parteiähnliche Formationen, und nur selten um hierarchisch organisierte Massenmitgliedsverbände. Sogar innerhalb des NGO-Spektrums hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten das Gewicht von Mitgliederorganisationen zu solchen Verbänden verschoben, die auf loseren Strukturen der Zugehörigkeit und Unterstützung beruhen und sich eher durch Spenden und Mäzene als durch Mitgliedsbeiträge finanzieren. So hat «amnesty international», die wichtigste Menschenrechtsorganisation des älteren Typs, Bedeutung gegenüber «Human Rights Watch» verloren, das den neuenTypus repräsentiert. In jedem Fall arbeiten NGOs nicht gewinnorientiert, «not for profit». In Amerika ist deshalb die Aussage, man arbeite für eine Nonprofit, fast gleichbedeutend mit dem Hinweis auf die Tätigkeit im zivilgesellschaftlichen Bereich.
    Man könnte, unabhängig von der Rechtsform, auch von zivilgesellschaftlichen «Verbänden» sprechen, wenn dieser Begriff nicht in der deutschen Tradition so eng mit dem Korporatismus der Interessenvertretung in der industriellen Gesellschaft verknüpft wäre: wirtschaftliche Interessenverbände hier, Gewerkschaften dort. Die neuen Organisationen sind dagegen im «Dritten Sektor» angesiedelt, sind also nicht nur «nichtstaatlich», sondern stehen auch außerhalb des Marktes und der kapitalistischen Interessenverfolgung. Wo die Grenze zwischen Eigen- oder Partikularinteressen einerseits, den Interessen Dritter oder der Allgemeinheit

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