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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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kontrollierten und die Verwaltung als verlängerterArm der Regierung begriffen wurde, die ihrerseits dem Parlament verantwortlich war.
    Transparenz, Kontrolle und Bürgerverantwortlichkeit: Vor diesem Hintergrund hat der in Schweden schon am Anfang des 19. Jahrhunderts erfundene «Ombudsmann» überall in Europa und teils auch darüber hinaus Karriere gemacht. In Deutschland übernahm der 1956 geschaffene Wehrbeauftragte des Bundestages vergleichbare Funktionen für die Soldaten der Bundeswehr, die in ihm einen direkten Ansprechpartner des Vertrauens außerhalb des «Dienstwegs» der Verwaltung bzw. der militärischen Hierarchien finden sollten. Erst drei bis vier Jahrzehnte später setzte sich die Einsicht durch, dass die Bürgerinnen und Bürger auch in ihren Interessen gegenüber der zivilen Verwaltung, den allgemeinen Staatsbehörden, den Schutz einer unabhängigen Ombudsperson brauchen könnten. Inzwischen wird sie meistens als «Bürgerbeauftragter» bezeichnet und ist als solcher in einigen Länderverfassungen, zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, verankert. Auch in der EU gibt es seit 1995 das Amt eines Europäischen Bürgerbeauftragten, an den sich alle Unionsbürger mit Beschwerden über die Arbeit der europäischen Institutionen wenden können.
    Zum mit Abstand wichtigsten Instrument der neuen bürgerlichen Interessenwahrung gegenüber dem demokratischen Staat aber sind die Gerichte geworden. Insofern treten Bürgerinnen und Bürger nicht nur im übertragenen Sinne «anwaltlich» auf, indem sie anderen Menschen oder übergeordneten Zielen ihre Stimme leihen, sondern auch – und im wörtlichen Sinne – als Kläger. In der preußisch-deutschen Geschichte hat die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine lange Tradition; schon im späten 19.Jahrhundert hat sie einen häufig sehr zuverlässigen Schutz der Bürger vor der Willkür der Bürokratie gebildet. Damals, zur Zeit des Kaiserreichs, dienten die Verwaltungsgerichte als eine Art Demokratieersatz im vordemokratischen Staat. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat sich das Streben nach gerichtlicher Interessenwahrung von dieser besonderen Tradition weithin abgelöst und in Europa wie in Nordamerika zu einer viel diskutierten Judikalisierung des demokratischen Prozesses geführt. Wie in vielen anderen Dimensionen der postklassischen Demokratie hat die internationale, besonders die europäische Politik als Treiber und institutioneller Vorreiter gewirkt, etwa mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auf der nationalen Ebene sind die Verfassungsgerichte große Gewinner dieser Entwicklung: der Supreme Court in den USA und erst recht das deutsche Bundesverfassungsgericht,dessen Prestige im Konzert der demokratischen Institutionen das des Parlaments und der Regierung längst in den Schatten stellt. Das Bundesverfassungsgericht kann sich dem Ansturm individueller Beschwerden kaum noch erwehren.
    Zugleich ist neben das in seinen Rechten verletzte (bzw. sich verletzt fühlende) Individuum die Zivilgesellschaft als Klägerin im Namen des Gemeinwohls getreten. Auch in der justiziellen Demokratie spiegelt sich mithin die Verschiebung vom Individualinteresse zum Gemeinwohlappell. Im angelsächsischen Rechtssystem ist das Institut des «class action suit», also einer Gruppenklage im Namen einer Vielzahl von einem Schaden Betroffener, seit langem bekannt. Dabei geht es meist um zivilrechtliche Streitfragen, also nicht um die «subjektiven öffentlichen Rechte» der Bürger gegenüber dem Staat. Genau diesem Zweck dient in Deutschland seit kurzem die «Verbandsklage», besonders im Umweltrecht. Nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz von 2006 kann eine «Vereinigung» – ein dafür zugelassener Verband, eine NGO – vor Gericht ziehen, «ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen». In diesem Mechanismus laufen also wichtige Fäden der neuen «anwaltschaftlichen Demokratie» zusammen: die Umwelt als Gegenstand des Gemeinwohls, als kollektives Gut – das Engagement für Ziele jenseits der individuellen, persönlichen Betroffenheit, also das Treuhänderprinzip – die Organisierung dieses Engagements in zivilgesellschaftlichen Verbänden oder NGOs.
    Von einer historischen Ablösung der repräsentativen durch die kontrollierende und

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