Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
Vom Netzwerk:
Konsumbürgers ist nicht auf die ökonomische Sphäre des privaten Verbrauchs begrenzt, sondern hat die gesamte Existenz des politischen Bürgers neu eingefärbt, der seine politischen Ansprüche viel mehr als früher aus der persönlichen Lebenswelt und privaten Lebensführung definiert. Und die deliberative Demokratie, um ein letztes Beispiel zu nennen, ist nicht nur ein theoretisches Konzept. Vielmehr finden sich wichtige Spuren ihrer Praxis in neuen Formen der außerparlamentarischen Aushandlung und Konsensbildung, an «Runden Tischen», in Schlichtungs- oder Mediationsverfahren.
    Ãœber einen Kamm scheren lassen sich die verschiedenen Trends jedoch nicht ohne weiteres. Sie laufen öfters parallel oder konkurrieren miteinander. Engagierte Bürgerinnen und Bürger kämpfen für mehr direkte Demokratie in Volksinitiativen und Abstimmungen; viele andere halten das nicht für die Arena, in der sich demokratische Zukunft überwiegend entscheidet. Internet-Aktivismus und «face-to-face»-Politik können sich gegenseitig befeuern, aber auch in Konkurrenz zueinander treten; von der Ambivalenz des Internets als Freiheitstechnologie zu schweigen. Und bildet die deliberative Demokratie eine politische Praxis ab, in der sich Konflikte zwischen Bürgern und Staat oft zuspitzen und eher agonal als im Diskurs ausgetragen werden? Solche Spannungen kennzeichnen aber nicht nur die Facetten der neuen Demokratie, sondern auch deren Verhältnis zu den Regeln und Institutionen des repräsentativen Systems und der verfassungsmäßigen Demokratie. Die neuen Trends haben sich zu einem erheblichen Teil informell herausgebildet, sie spiegeln soziale und kulturelle Veränderungen und neuepolitische Praxisformen, ohne in der Verfassung verankert zu sein. Möglicherweise lässt sich das nachholen, und man könnte sich ein Grundgesetz vorstellen, das zivilgesellschaftlichen Aktivismus, NGOs oder neue Institutionen der außerparlamentarischen und außergerichtlichen Konfliktregulierung ausdrücklich in seine Artikel aufnimmt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Verfassungsdemokratie und außerkonstitutionelle Demokratie nebeneinander bestehen bleiben, so wie das auch für die Europäische Union gilt.
    Die klassische Demokratie der individuellen Freiheitsrechte, der Gewaltenteilung und des parlamentarischen Regierungssystems ist ohnehin durch die neuen Entwicklungen nicht abgelöst, noch nicht einmal an den Rand gedrängt worden. Wo es noch keine Demokratie gibt: in Diktaturen, in autoritären Regimen, steht ihre Etablierung ganz oben auf der Wunschliste. Eine überlegene Form der Sicherung von Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit und legitimer Regierung auf Zeit ist noch nicht gefunden. Die demokratischen Revolutionen im kommunistischen Ostmitteleuropa haben das 1989/90 bestätigt, auch in der DDR. Angesichts postmoderner Auflösung von Hierarchien und Zentren, angesichts der kulturellen Prägekraft digitaler Netzwerkarchitekturen mag es umstritten sein, noch von einem Zentrum oder Fundament der Demokratie zu sprechen. Aber anders wird man der fortwirkenden Bedeutung des demokratischen Verfassungsstaates, wie er sich spätestens in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Westeuropa und Nordamerika etabliert hatte, kaum gerecht. Ein freies Wahlregime und Grundrechte stehen im Mittelpunkt der «eingebetteten Demokratie», die ohne die sie umgebende Zivilgesellschaft ärmer wäre – umgekehrt macht die Zivilgesellschaft aber noch keinen demokratischen Staat. Auch sollte man nicht vergessen, dass schon die klassische Demokratie – in der Theorie wie in sehr lebhafter Praxis – in ein zivilgesellschaftliches Leben eingebettet war und sich aus ihm speiste: mit Vereinen und Verbänden, Parteien und wohltätigen Organisationen, die bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts florierten.
    Freilich haben sich Bedeutung und Selbstverständnis dieser «politischen Gesellschaft» in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Für die klassische Theorie der liberalen, pluralistischen Demokratie standen Vereine, Parteien, Verbände zwischen dem Individuum und dem Staat. Als «intermediäre Institutionen» bildeten sie – so sah man es zumal in der Nachkriegszeit, gegen die totalitäre Erfahrung – eine Sicherung gegen die unmittelbare Vereinnahmung der Individuen durch einen allesumgreifenden Staat. Heute dagegen wird die

Weitere Kostenlose Bücher