Was ist Demokratie
hat sich ein breiter Konsens durchgesetzt, dass eine gute Gesellschaft nicht vollkommen gleich sein, dass es aber fair in ihr zugehen müsse, im Sinne von Offenheit und Chancen. In der Tradition des liberalen Denkens nahm Rawls einen (fiktiven) Naturzustand an, in dem die Menschen über die künftige soziale Ordnung zu entscheiden hätten, ohne zu wissen, welchen Platz sie selber darin einnehmen würden. Das nannte er den «Schleier des Nichtwissens». Etwas vereinfacht, kann sich damit jeder selber fragen: Für welches Maà an Spreizung der Einkommen wäre ich, wenn ich nicht wüsste, ob ich als Chefarzt oder als Niedriglöhner arbeiten müsste? Sozialökonomische Ungleichheit hält Rawls dann für gerechtfertigt, wenn sie auch den Schwächsten in der Gesellschaft Vorteile bringt.
Seitdem ist das Nachdenken über eine gerechte Gesellschaft zu einem wichtigen Anker einer Philosophie der Demokratie geworden. Die immer neuen Varianten von Gerechtigkeitstheorien sind jedoch nicht nur ein akademisches Spiel, sondern überschneiden sich mit sozialen und politischen Konfliktlinien und strahlen auch auf die praktische Gestaltung von Politik immer wieder aus. Statt nur auf Einkommen und Vermögen blickt man auf kulturelle Unterschiede: der Herkunft, der Religion, der Ethnizität. Das zwingt zum Umdenken, denn solche Differenzen sollen in einer «multikulturellen» Gesellschaft gerade nicht eingeebnet werden; statt Umverteilung bzw. Anpassung ist «Anerkennung» der anderen Identität dann das Prinzip der Gerechtigkeit und zugleich einer demokratischen Zivilität. Wenn etwas gerecht verteilt sein soll, dann sind es zuerst die «Verwirklichungschancen»: Alle Menschensollen die Chance haben, ihre Fähigkeiten, ihre Potentiale zu entwickeln, und dazu muss die Politik Voraussetzungen schaffen â wobei die Umverteilung, auch zwischen reichen und armen Ländern auf der Erde, ein Mittel unter anderen sein kann. Der amerikanisch-indische Ãkonom und Nobelpreisträger Amartya Sen schlägt auf diese Weise eine Brücke zwischen abstrakter Sozialphilosophie und praktischer Entwicklungspolitik in globaler Perspektive. Geschlechterfragen und Geschlechterpolitik sind ein weiteres wichtiges Feld, in dem sich Gerechtigkeit und Demokratietheorie neuerdings treffen.
Aber auch klassische Fragen von Armut, Reichtum und sozialer Ungleichheit sind in die Mitte demokratischer Gesellschaften zurückgekehrt. Millioneneinkommen und Milliardenvermögen von Unternehmern, Managern und Investmentbankern müssen sich nicht ohne weiteres in politische Macht übersetzen, die demokratische Legitimität aushebelt, aber die kritische Frage danach ist berechtigt. Und wenn soziale Zustände als extrem ungerecht verstanden werden, ist davon â unabhängig vom politischen Einfluss der Reichen â auch das Vertrauen in ein politisches System betroffen, das Ungerechtigkeit zulässt. Neben einer möglichen Herrschaft des Geldes, einer Plutokratie, existiert aber auch die umgekehrte Gefahr des Rückzugs der Oberschichten aus Alltagswelt und Politik, ihrer Abgrenzung zu einer engagierten Zivilgesellschaft. Von diesem Herausfallen aus der demokratischen Lebenswelt sind aber die unteren Schichten, die Ãrmeren und Benachteiligten, viel mehr betroffen. Ihnen fehlt oft nicht nur der Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern auch zu Bildungschancen, zu Netzwerken sozialen Kapitals, und eben auch zum demokratischen Engagement, wenn sie nicht ohnehin das Vertrauen in die Politik verloren haben. Niemand hat ihnen das Wahlrecht entzogen, und doch sind sie nicht mehr in die Bürgergesellschaft eingeschlossen und werden zu den «Ãberflüssigen» der Gegenwart. Erneut richtet sich der Fokus also nicht so sehr auf die prinzipielle Behebung von Ungleichheit, sondern auf â wie es jetzt oft heiÃt â «Inklusion» und «Teilhabe», an materiellen Chancen ebenso wie an Kultur und Politik.
In ihrer klassischen Phase vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre ist die Demokratie maÃgeblich von sozialen Unterschichten vorangetrieben und mitgestaltet worden, in Gestalt der gut organisierten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die neue Demokratie ist die einer mehr individualistischen, nicht mehr kollektiv organisierten Gesellschaft. Davon profitieren diejenigen sozialen Schichten,die den Individualismus und die neuen Netzwerkstrukturen zur
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