Was ist Demokratie
mussten.
Man kann Michael Mann jedoch entgegenhalten, dass brutale Siedler- und Kolonialherrengewalt kaum von der Regierungsform abhängig war. Dafür ist die Niederschlagung des Herero-Aufstands in Südwestafrika durch die deutsche Kolonialmacht 1906 ein neuerdings viel diskutiertes Beispiel: ein Genozid durch Vertreibung in die wasserlose Kalahari-Wüste. Auch dass der Begriff des «Volkes» antidemokratisch, exklusiv und genozidal umgedeutet werden konnte, wissen die Deutschen aus ihrer eigenen Geschichte gut. Insofern kann man ethnische Säuberung und Völkermord wohl als die dunkle Seite des Volkes verstehen â aber gerade nicht der Demokratie. Denn im 20. Jahrhundert waren es immer wieder, und praktisch ausnahmslos, Diktaturen, die den Begriff des Volkes, von rechts ebenso wie von links, in Konformität, Ausgrenzung und Vernichtung umlenkten. Dafür musste der Begriff aber seines demokratischen und freiheitlichen Gehalts entleert werden. So war der staatliche Massenmord fast immer mit einem radikalen Freiheitsverlust auch für die Nicht-Feinde verbunden. Dafür steht die nationalsozialistische Diktatur ebenso wie der sowjetische Stalinismus. Demokratien sind nicht immun gegen ethnische Verfolgung und Gewalt. Aber zumal nach 1945 erwies sich demokratische Regierung als eines der wirksamsten Schutzmittel gegen den Völkermord, und nicht als dessen heimliche Verbündete.
Jenseits von Krieg und Genozid schlieÃlich stellt sich die Frage nach Gewalt und innerer Friedfertigkeit in demokratischen Gesellschaften überhaupt. Wie ist es um ihre «Zivilität» bestellt? Denn im Deutschen wie in vielen anderen Sprachen bezieht sich «zivil» (wie in der Zivilgesellschaft) nicht nur auf das Engagement des Bürgers, sondern meint auch gesittete und friedliche Umgangsformen, und nicht zuletzt das Gegenteil alles Militärischen: der Zivilist ist kein Soldat. Tatsächlich ist Demokratie auch in genau diesem Sinne eine «zivile» Regierung: eine, in der das Militär nicht das Sagen hat, ein Gegensatz also zur Militärdiktatur als einer der am weitesten verbreiteten autoritären Regimeformen des 20. Jahrhunderts. Die Zurückdrängung des Militärs in die Kasernen ist für die Europäische Union ein wichtiger Indikator des Demokratiefortschritts, etwa im Blick auf die Türkei. Das Selbstverständnis, wenn auch längst nicht immer die Wirklichkeit, von Demokratie ist es, Konflikte friedlich und kompromissorientiert zu lösen. Dafür kannman sich auf das wettbewerblich-pluralistische Prinzip berufen oder, neuerdings häufiger, auf das diskursiv-deliberative. Historisch hat man zu zeigen versucht, dass die Gewalthaftigkeit innerer sozialer Konflikte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert abgenommen hat. Streikende Arbeiter etwa werden nicht mehr niedergeknüppelt oder gar beschossen, und umgekehrt verhalten sich Protestierer friedlicher im Vertrauen auf demokratische Anerkennung ihrer Aktionen.
Dem steht jedoch eine zweite Wirklichkeit gegenüber, die ebenfalls ganz tief in der bürgerlichen Freiheit wurzelt. Während der klassische liberale Bürger eher der Händler ist, der mit Uniform und Waffe nichts anzufangen weiÃ, hat der Bürger in der republikanischen Tradition sein Gewehr bei der Hand, um seine individuelle Freiheit, aber vor allem die politische Freiheit des Staates zu verteidigen; nicht als Wehrpflichtiger, Söldner oder Berufssoldat, sondern als Bürgersoldat, als Angehöriger einer Miliz. Die direkte Demokratie der Schweiz sah sich lange Zeit als die Versammlung der wehrfähigen Bürger â was auch die Zulassung von Frauen erschwerte. Das im zweiten Verfassungszusatz der USA verankerte Recht auf Waffenbesitz begründet sich dort ausdrücklich (und heute oft vergessen) mit der Notwendigkeit, in einer Miliz die «Sicherheit eines freien Staates» zu verteidigen. Als Demokratie sind die USA auch in einen Bürgerkrieg gezogen; in GroÃbritannien hat im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts der Nordirlandkonflikt eine demokratische Gesellschaft mit Gewalt überzogen. Aus europäischer Perspektive ist die gesamte Kultur der Vereinigten Staaten durch verschiedenste Formen der inneren Gewaltsamkeit bestimmt. Historisch gehörten dazu die alltägliche Gewalt an der Siedlungsgrenze, in Räumen noch nicht etablierter staatlicher Autorität, aber auch die Lynchmorde vor allem an schwarzen
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