Was ist Demokratie
Regierung gehörte zu den wichtigsten Reformforderungen der SPD und der linksliberalen Kräfte: Der Kanzler und seine Regierung sollten durch die Parlamentsmehrheit bestimmt und von ihr getragen werden. Im Oktober 1918, kurz vor dem Ende des Kaiserreichs, gelang das schlieÃlich. Genau deshalb ist die Bundeskanzlerin, ebenso wie die meisten ihrer Minister, zugleich Abgeordnete. Das wird heute manchmal kritisiert oder nicht verstanden, weil diese Vorgeschichte, und die prinzipielle Bedeutung einer Parlamentsregierung für die Demokratie, nicht mehr bekannt sind.
Die Vielfalt, ja der zugespitzte Gegensatz der Auffassungen darüber, was politisch richtig sei, ist bisweilen an der Schärfe der Debatten ablesbar, in den rhetorischen Gefechten zwischen Regierung und Opposition. Eine wichtige Funktion der Opposition ist es, nicht nur eine Alternative zur Regierungspolitik aufzuzeigen, sondern auch die Regierung zu kontrollieren, zur Rechenschaft zu ziehen, schonungslos zu kritisieren. Aber diese Kritik hat dann auch wieder Grenzen â nicht nur des persönlichen Respekts, sondern auch sehr grundsätzlich. Denn Opposition in einer Demokratie drückt in aller Regel nicht nur Dissens, sondern zugleich einen tiefer liegenden Konsens aus: die Zustimmung zu dem politischen System, in dem man sich gemeinsam bewegt, und den Bezug auf eine gemeinsame Quelle der Souveränität wie das Volk. In GroÃbritannien ist noch immer die Monarchie, jedenfalls der Tradition nach, dieser Bezugspunkt. Die Anerkennung der Opposition, also die Berechtigung von Dissens, aber auch ihre Einfügung in das System, spiegelt sich in dem altmodischen, bis heute offiziellen Ausdruck von «Her Majestyâs Opposition», oder sogar: «loyale Opposition Ihrer Majestät».
AuÃerhalb parlamentarischer Systeme, zumal des britischen «Westminster»-Typs, ist der Begriff der Opposition weniger gebräuchlich und auch weniger sinnvoll. Die USA sind dafür das beste Beispiel, wo der vom Volk gewählte Präsident als Regierungschef dem Parlament nicht angehört und sich auch nicht unmittelbar auf die Abgeordneten seiner Partei stützen kann. Im Senat und im Repräsentantenhaus gibt es jeweils eine Mehrheit und eine Minderheit der Demokraten und der Republikaner, aber die Mehrheitsfraktion regiert deshalb nicht, auch wenn sie den Präsidenten unterstützt â sofern er derselben Partei angehört. In manchem ist dennoch der «Minderheitsführer» das Pendant des parlamentarischen Oppositionsführers, aber er vertritt nicht selten, auch wieder seit den Wahlen im November 2010, die Partei des Präsidenten. Dennoch war auch die amerikanische Geschichte wichtig für die prinzipielle Anerkennung von Opposition, wie umgekehrt dafür, dass die Opposition, bzw. die unterlegene Minderheit, die Verfassung anerkannte, statt sich fundamental gegen sie zu stellen. Die «Anti-Federalists» schlüpften zwischen 1788 und 1791 unter das Dach der von ihnen ursprünglich abgelehnten Bundesverfassung und stellten nach den Wahlen von 1800 (nunmehr als «Democratic Republicans» firmierend) mit Thomas Jefferson auch erstmals den Präsidenten.
Die Bundesrepublik ist keine reine «Westminster»-Demokratie, wie man schon an der Sitzordnung im Bundestag erkennt. Aber ihre parlamentarischeKultur erinnerte nicht zufällig zu jener Zeit am meisten an die klassische englische, als das Parteiensystem von Union und SPD beherrscht wurde, also von den 60er Jahren bis in die frühen 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Oppositionsführer verstand sich als Reservekanzler und griff im «konstruktiven Misstrauensvotum» tatsächlich nach der Ablösung: Rainer Barzel vergeblich gegen Willy Brandt am 27. April 1972, Helmut Kohl erfolgreich gegen Helmut Schmidt am 1.Oktober 1982. Mit der zunehmenden Pluralisierung des Parteiensystems und einem Parlament mit inzwischen fünf Fraktionen hat die Bedeutung dieser klaren Entgegensetzung, der «Spiegelung» der Regierung in der Opposition, abgenommen. Denn die Opposition repräsentiert seitdem gar nicht unbedingt ein einheitliches politisches Lager, eine potentielle neue Koalitionsregierung; geschweige denn eine einzige Partei oder Fraktion, wie das zwischen 1961 und 1983 immer der Fall war. Aber auch gröÃere Veränderungen von Demokratie, jenseits von Parlament und Parteien, scheinen dabei eine Rolle zu spielen.
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