Was ist Demokratie
von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hinein, gegen das Wählen: Da viele ärmere Bürger von den Vermögenderen persönlich abhängig waren â in der Landwirtschaft, als Hausdiener; oft durch Verschuldung â, drohten sie bei Wahlen erpressbar, ihre Stimmen käuflich zu sein. Dieses Dilemma «klientelistisch» strukturierter Gesellschaften umgeht das Los.
Dennoch hat sich das Wahlprinzip in der Geschichte der modernen Demokratie seit dem 18. Jahrhundert rasch und letztlich ohne echte Konkurrenz durchgesetzt. Aber das geschah nicht ohne Konflikte, und die Regeln, nach denen gewählt wurde, waren oft umstritten und bleiben es zum Teil bis heute. Gegenüber dem Losverfahren wollen wir sichergehen, dass Menschen auch zur Ãbernahme eines Mandates oder Amtes bereit sind â dass sie also, in politischer Sprache, kandidieren. Auch eine pluralistische Demokratie mit ihren unterschiedlichen Gesinnungenund Interessen, die wiederum in Parteien zusammenfinden, ist mit einem Losverfahren nicht vereinbar. Und schlieÃlich halten wir bestimmte Menschen für besser geeignet als andere, politische Verantwortung zu übernehmen, und treffen insofern in Wahlen doch eine Auslese der relativ «Besten». Im 18.Jahrhundert hätte man das noch aristokratisch genannt; heute spricht man öfters von einer Meritokratie, bei der also nach Leistungen und Verdiensten entschieden wird. So unbestritten das grundsätzlich ist, gibt es doch bis heute immer wieder Anlass zu Kritik und Konflikten: Braucht man eine akademische Bildung, am besten ein Jura- oder Volkswirtschaftsstudium, um ein höheres politisches Amt zu übernehmen? Ist aus einer offenen Meritokratie eine abgeschlossene politische Klasse geworden? Das spiegelt sich historisch in der Unterscheidung zwischen «aktivem» und «passivem» Wahlrecht. Nicht jeder, der wählen darf (aktiv, auch Stimmrecht genannt), darf sich auch wählen lassen, also Ãmter in der Demokratie übernehmen. Dafür galten oft besondere Einschränkungen nach Besitz, aber auch nach dem Lebensalter. Diäten, das heiÃt Tagegelder für Abgeordnete, waren deshalb ursprünglich ein sehr egalitäres Instrument: Sie sollten auch jenen, die nicht aus einem eigenen Vermögen schöpfen konnten, den zeitweisen Verzicht auf den Brotberuf zugunsten der Politik ermöglichen. Altersgrenzen nehmen die uralte Vorstellung vieler Kulturen auf, dass die Ãlteren wegen ihrer Lebenserfahrung besonders weise, oder in ihrem Urteil gemäÃigt, und deshalb auch politisch klug und zur Herrschaft berufen sind. Ein spärliches Ãberbleibsel dieser Idee, die in der modernen Demokratie keinen Platz mehr hat, ist das Mindestalter von vierzig Jahren für die Wahl zum Bundespräsidenten nach Art. 54 des Grundgesetzes.
Gegenüber anderen Mechanismen wie der Vererbung politischer Ãmter â in der Erbmonarchie, im 20. Jahrhundert aber zunehmend auch in Diktaturen wie Nordkorea â ermöglichen Wahlen aber zunächst einmal die Offenheit politischer Führung. Sie sind ein zentraler Baustein der «Kontingenz» von Demokratie. Kontingenz bedeutet: Es könnte so, aber auch anders sein. Die Entscheidung kann in einer Wahl für Person A oder Person B fallen, oder in einer Abstimmung für den einen oder den anderen Weg: für oder gegen Atomkraftwerke, für oder gegen eine Rentenerhöhung. Man kann Kontingenz auch mit Freiheit übersetzen. Darin liegt dann sogar ein Vorzug der Wahlen gegenüber dem Losverfahren. Denn bei aller Bedeutung von Recht und Gesetzen geht das moderne Verständnis von Demokratie davon aus, dass Menschenals Persönlichkeiten mit ihren besonderen Vorstellungen und Wünschen sehr wohl eine Rolle spielen und nicht nur Vollzugsorgane eines Systems sind. Die moderne Demokratie gründet in einem freiheitlichen und individualistischen Menschenbild, das die griechische Antike noch nicht kannte. Das kommt in der Wahl von Menschen, die möglichst das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger genieÃen sollen, zum Ausdruck. Welchen Spielraum die Zwänge des «Systems» gerade in modernen Gesellschaften noch lassen, ist freilich selber Gegenstand einer kritischen Debatte geworden.
Demokratische Wahlen sollen frei, gleich, geheim und direkt sein. Das ist eine bekannte Formel, beinahe ein Katalog von Selbstverständlichkeiten. Aber hinter jedem einzelnen dieser Begriffe steht
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