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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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System hat mehrere demokratische Vorzüge: Es praktiziert eine klare und faire Mehrheitsregel, und es bringt Abgeordnete mit persönlicher Bindung an den Wahlkreis und Verantwortung gegenüber den lokalen Wählerinnen und Wählern hervor. Im Prinzip ganz ähnlich wird das amerikanische Repräsentantenhaus gewählt. Diese Regeln funktionieren am besten in einer Zweiparteienlandschaft, die sie umgekehrt auch begünstigen oder stabilisieren. Die Durchsetzung neuer Parteien ist erschwert, wie man am Ende des 20. Jahrhunderts am Schicksal ökologischer und «grüner» Parteien in Großbritannien und den USA erkennen kann.
    Die ganz andere Variante, das Verhältniswahlrecht, ist historisch wesentlich jünger, weil es ein verfestigtes und national einheitlich organisiertes Parteiensystem voraussetzt: Auf diese Idee konnten die Vordenker der Demokratie im 18. und frühen 19. Jahrhundert also noch gar nicht kommen. Seine bekannteste Ausprägung hat es im Reichstagswahlrecht der Weimarer Republik gefunden. Die Wählerinnen undWähler entscheiden sich für eine Partei bzw. eine Wahl-«Liste», das heißt eine gereihte Aufstellung der Personen, die für diese Partei oder dieses Bündnis ins Parlament einziehen sollen. Lokale und regionale Einheiten spielen keine Rolle; die Loyalität der gewählten Abgeordneten bezieht sich nicht auf einen Wahlkreis und seine Wahlbürger, sondern auf die Partei und ihre programmatische Linie. Alle Parteien dürfen nach dem erhaltenen Stimmenanteil Abgeordnete ins Parlament senden. Auch Minderheitsrichtungen und kleine Parteien werden also repräsentiert, die beim Mehrheitswahlrecht keine Erfolgschance gehabt hätten. Deshalb wird das Verhältniswahlrecht in Deutschland oft als gerechter, oder sogar als «demokratischer» empfunden – eine Vorstellung, die sich aus der Weimarer Republik auch in die politische Kultur der Bundesrepublik hinein bis heute erhalten hat. In der 1949 etablierten Mischung des «personalisierten Verhältniswahlrechts» gehört die Erst- oder Wahlkreisstimme zwar einem lokalen Kandidaten. Entscheidend für die Zusammensetzung des Bundestages (und der Landtage) ist aber die Zweitstimme für eine Liste der Partei; wegen des Föderalismus sind das «Landeslisten», nicht national einheitliche Parteilisten.
    Wie fremd den Deutschen seit 1949 das Mehrheitswahlrecht ist, zeigt die Tatsache, dass zusätzlich gewonnene Wahlkreise als «Überhangmandate» verstanden werden, die für andere Parteien durch «Ausgleichsmandate» arithmetisch wieder egalisiert werden müssen. Es zeigt sich auch an der Arroganz, mit der in der deutschen öffentlichen Meinung bisweilen das Mehrheitswahlrecht als undemokratisch kritisiert wird, weil dort angeblich Stimmen «verloren gehen» und damit das Gleichheitsprinzip verletzt würde. Dieser Einwand ist aber nicht stichhaltig, weil er die Bedeutung der Mehrheitsregel für die Demokratie verkennt. Trotzdem kann man Gründe für das Verhältniswahlrecht finden und es am Ende vorziehen. In der Geschichte der Bundesrepublik plante die erste Große Koalition (1966–1969) aus CDU/CSU und SPD einen Wechsel zum Mehrheitswahlrecht. Aber am Ende wollte man der FDP, die als Mehrheitsbeschaffer notwendig sein konnte, nicht schaden. Seitdem, und erst recht angesichts der Pluralisierung des Parteiensystems seit den 1980er Jahren, hat es größere Debatten über das Wahlrecht in Deutschland nicht mehr gegeben.
    Wichtiger, jedenfalls oft spannender als das Wahlrecht ist ohnehin die Praxis von Wahlen, ihr konkreter Vollzug, ihre Einbettung in die Gesellschaft. Daran zeigt sich so etwas wie eine sekundäre demokratischeFunktion von Wahlen. Sie dienen nicht nur dazu, Personen auf Zeit politische Verantwortung zu geben, sondern auch der Mobilisierung einer Gesellschaft für politische Ziele, der politischen Selbstverständigung, der Diskussion über politische Programme und Richtungen; und nicht zuletzt auch: immer aufs Neue der Einübung demokratischer Spielregeln und Rituale. Wahlkämpfe sind deshalb keine lästige Begleiterscheinung, keine unnötige Inszenierung vor dem «eigentlich» bedeutsamen Wahlakt selber. Sie sind, trotz vielfältiger Wandlungen, keine Erfindung der letzten Jahrzehnte oder ein Resultat neuerer technischer Innovationen, auch wenn sich eine Geschichte von Wahlkämpfen sehr gut

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