Was ist Demokratie
gemacht. Immer wieder beriefen sich diese Autoren nicht nur auf die Antike, sondern auch auf die englische Geschichte, in der die Herrschaft des Rechts und der Gesetze einen zusätzlichen Akzent erhalten hatte. Seit der Magna Charta von 1215, und dann besonders in den Revolutionen des 17.Jahrhunderts, war die Gewährung von Rechten zum Schutz des Einzelnen gegen die monarchische Autorität und Willkür immer mehr in den Vordergrund gerückt und schriftlich verbrieft worden. Vielgelesene Autoren wie James Harrington mit seiner republikanischen Utopie über den «Commonwealth of Oceana» von 1656 festigten in dieser Zeit den Begriff des «rule of law», der sich nicht nur auf Gesetze, sondern auchauf grundlegende Rechte bezog. Das englische «law» heiÃt ja sowohl Recht als auch Gesetz, und in der Idee des Rechtsstaates schwingt seither immer auch die Bedeutung eines «Rechte-Staates» mit. Es genügt also nicht, dass irgendein Gesetz gilt, sondern die Gesetze müssen den Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit und Schutz gewähren.
Schriftlich fixierte Gesetzbücher spielten in England, und dann auch in den USA, ohnehin nicht die gleiche Rolle wie im kontinentalen Europa, vor allem in Frankreich und Deutschland. Deshalb ist in der angelsächsischen Tradition des «Common Law», in dem sich das Recht in einzelnen Konfliktfällen durch gerichtliche Entscheidungen weiterentwickelt, bis heute der Begriff «rule of law» verbreitet, während der «Rechtsstaat» für dortige Ohren fast schon zu sehr nach einem starken Staat klingt. Genau diesen staatsnahen, also «etatistischen» Beiklang entwickelte der Rechtsstaat in Deutschland, besonders in PreuÃen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das war ohnehin die Zeit, in der alle sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Gesetzbücher mit vielen tausend Paragraphen gegossen wurden, vom Handelsrecht über das Strafgesetzbuch bis zu unserem Bürgerlichen Gesetzbuch, dem BGB, von 1900. In Verfassung und Politik hatte das Kaiserreich von 1871 nicht den demokratischen Weg von 1848 fortgesetzt. Umso mehr betonten Liberale wie Lorenz von Stein während dieser Zeit die Bedeutung von Recht und Verwaltung zur Sicherung der Freiheit des Bürgers auch in einer monarchisch-konstitutionellen, vielfach obrigkeitlich gefärbten Ordnung. Ja, man konnte in der vergleichsweise liberalen Gestaltung der Gesetze und in einem professionellen, relativ berechenbaren Justizwesen sogar so etwas wie einen Ersatz für Demokratie und Volkssouveränität sehen. Bis heute spielt die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland eine wichtige Rolle: also das Recht der Bürger, gegen eine Verwaltungsentscheidung â zugespitzt könnte man sagen: gegen den Staat selber â vor Gericht zu ziehen. Diese Dimension des Rechtsstaates geht weithin auf die vordemokratische Zeit des Kaiserreichs zurück, wenn man die Linie nicht sogar bis in die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches zurückverfolgen will, in der zwei Gerichte: das zuletzt in Wetzlar ansässige Reichskammergericht und der Wiener Reichshofrat, als Instrumente der Konfliktschlichtung und Rechtssicherung dienten, wenngleich noch nicht im modernen Sinne der individuellen Rechte.
In den 1920er und 1930er Jahren nahm der Begriff des Rechtsstaates erneut unter dem Eindruck politischer Ereignisse in Europa eine Wendung. Autoritäre Bewegungen suchten die parlamentarischen Demokratiendurch Diktaturen zu überwinden â der Rechtsstaat wurde jetzt zu einem Gegenbegriff und Sicherungsanker gegen die Diktatur. In seiner berühmten Schrift «Rechtsstaat oder Diktatur» analysierte der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller im Jahre 1930, schon unter dem Eindruck erster rasanter Erfolge der NSDAP, die neue Attraktivität der Diktatur als einen Angriff auf den Rechtsstaat, der bis 1918 in Europa «eine Selbstverständlichkeit» gewesen sei. Obwohl Heller also politisch eher links stand und die Weimarer Demokratie emphatisch unterstützte, galt ihm das deutsche Kaiserreich doch unzweifelhaft als ein Rechtsstaat. Man konnte sich, auch bei begrenzter politischer Teilhabe, auf die Gesetze und auf seine Sicherheit verlassen. Heller nahm damit vorweg, was andere unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Diktatur genauer charakterisieren konnten. Ein neuer Typus des Willkürstaates etablierte sich, den Ernst
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