Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)
Erkenntnis.
Die menschliche Seele muss bei ihrer Erkenntnisarbeit mit dem Äußeren anfangen. Sie braucht für ihr Erkenntnisleben das Andere und Fremde. Aber sie bildet es nicht einfach ab. Sie ruht nicht bei ihm aus. Sondern sie konfrontiert das Wahrgenommene mit Gedanken. Sie vergleicht das Hingenommene mit dem Urbild davon, das in der Seele ist. Sie bewertet die Welt. Aber wovon hat die Seele Urbilder? Der Autor antwortet rigoros: Jedenfalls liegt in ihr kein Inbegriff, exemplar, Gottes. Gott wird von ihr nicht als das Ersterkannte immer schon wahrgenommen. Von dem, was über ihr ist, weiß sie zunächst nichts. Sie hat ein Urbild nur von dem, was durch sie vom ersten Grund her ins Dasein getreten ist, wie die dunkle Formulierung in XXIII (XXIII h S. 31, Z. 6–7; hier S. 70) lautet. Man kann an ein Haus denken, das die Seele kennt, weil sie es gemacht hat. Verum et factum convertuntur , könnte es hier mit Giambattista Vico heißen. Die Seele hat von vielen Dingen nachträgliche Sinnesbilder. Deswegen heißt es, sie sei gewissermaßen alle Dinge (XXI h S. 28, Z. 4, hier S. 67). Der beurteilende Vergleich dieser Sinnesbilder mit ihren Urbildern kann ‹Erleuchtung› heißen. Nur sieht die Seele in diesem Licht nicht den ersten Grund. Von ihm kann sie sich aber aus den Weltdingen einen Begriff erarbeiten. Das ist genau das, was die vierundzwanzig Philosophen tun. Die Seele produziert Sinnesbilder und gibt sie nachdenkend wieder auf; in dieser zweiten Phase denkt sie verneinend, fernhaltend, abnegando et removendo omnes rerum species (XXI h S. 28, Z. 6–7; hier S. 67).
Vielleicht ist in dieser Frage die Position des Buches nicht ganz klar: Der Kommentar zu These XXIII führt aus: Die Seele hat von nichts Wissen, das über ihr steht, also auch nicht vom ersten Grund. Aber wenn sie das Wissen von allen (!) anderen Dingen erworben hat, gewinnt sie aus den Dingen den ersten Grund, indem sie seinen Gegensatz zum Nichts hinzudenkt. Aber auch dann weiß sie nicht, was er ist, sondern nur, was er nicht ist. Dieses Wissen ist in Wahrheit Nichtwissen (XXIII h S. 31, Z. 8–14; hier S. 70). Das Ergebnis ist klar: Wir wissen nicht, was Gott ist. Unklar bleibt: Gibt es außer der rein negativen Theologie eine positive Gotteserkenntnis aus den Dingen selbst, die sich erst am Ende als Nichtwissen durchschaut? Dass dies das Ende ist, wird schroff ausgesprochen: Wenn die Seele sich nach dieser Denkarbeit auf sich selbst zurückwendet, nimmt die Finsternis zu. Sie ist dem unendlichen Licht nicht gewachsen. Wenn sie auf sich selbst zurückkommt, sagt sie: Hier bin ich im Finstern, Hic mihi tenebrae sunt (XXI h S. 28, Z. 9–10; hier S. 67). Unser Text enthält Eingeständnisse der Verfinsterung. In einer theologisch bestimmten Zivilisation mögen sie bedrohlich geklungen haben. Zum Beispiel diese Definition Gottes:
Gott, das ist die Finsternis, die in der Seele zurückbleibt nach allem Licht (XXI).
Der Autor stützt dieses Ergebnis auf seine Untersuchung der Sprache. Sie ist der Erkenntnis der Urmonade nicht angemessen. Denn jede Aussage ( praedicatio ) bringt Vielheit mit sich, weil ihre Aufgabe ist, die Vielheit von Bestimmtheiten ( rationes ) zum Ausdruck zu bringen, die in einer Sache liegen. Aber Gottes Einfachheit schließt Vielheit der Bestimmungen an ihm selbst aus. Die Sprache ist für werdende und komplizierte Gegenstände geeignet, nicht für die Urmonade in ihrem einfachen ewigen Selbstbezug (XXI). Eine Aussage legt auseinander, bevor sie zusammenbindet. Bei Gott gibt es keine Vielheit, die auseinandergelegt werden könnte.
7. Die Verwendbarkeit änigmatischer Thesen
Unser Text ist ein Solitär. Schon ein mittelalterlicher Schreiber gab ihm die Überschrift: Änigmatische Thesen. Seine weitverzweigten Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit; Entstehungsort und Verfasser kennen wir nicht. Im Mittelalter wurde er oft Hermes Trismegistos, dem Dreimalgrößten, zugeschrieben und damit in die früheste Vorgeschichte, nahe an die Erschaffung der Welt zurückdatiert. Auch Empedokles und andere antike Philosophen wurden als Verfasser genannt. Jedenfalls sollten es antike Denker gewesen sein, keine christlichen Theologen. Es wird nicht ein einzelner Weiser herbeigerufen, sondern deren vierundzwanzig: ein denkwürdiger, wenn auch fiktiver Pluralismus. Ein wahrscheinlich in christlicher Umgebung lebender Autor lässt sie das Zeugnis der ungetauften Vernunft ablegen. Wofür? Waren sie nicht aus eigener Kraft der Wahrheit
Weitere Kostenlose Bücher