Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)
Weisheit empfangen. Er war der Repräsentant der uralten Menschheitsüberlieferung. Sie sollte auf die Belehrungen zurückgehen, die Adam von Gott selbst erhalten habe. Die historische Forschung hat diesen Hermes entmythologisiert: Hermes Trismegistos war eine literarische Fiktion, mit deren Hilfe man neoplatonisierende Texte der Spätantike in die gottnahe Vorzeit zurückdatierte. Für moderne Historiker gehört unser Buch nicht zu den hermetischen Schriften.
Vierundzwanzig Philosophen definieren ‹Gott›. Sie sind keine Theologen im Sinne der Bibel- oder Koranforscher; sie berufen sich auf keine Autorität. Sind ihre Gottesbegriffe christlich? Ist der Text aus dem Griechischen übersetzt? Handelt es sich vielleicht um eine Kompilation griechischer, arabischer und christlicher Thesen, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zusammengestellt wurde? Sind sie untereinander kohärent? Die ungemein gelehrte französische Herausgeberin, Françoise Hudry, die den Text zweimal ediert hat, ließ 1997 die Schrift in Alexandria im dritten Jahrhundert entstanden sein und fand in ihm Fragmente der verlorengegangenen Schrift des Aristoteles Über die Philosophie .[ 3 ] 2009 schrieb sie das Buch dem römischen Rhetor Marius Victorinus zu, der im vierten Jahrhundert aus griechischen Vorlagen, besonders aus Aristoteles, aus Philon, Plotin und Porphyrios sowie aus den alttestamentlichen Weisheitsbüchern geschöpft habe, um mit rein philosophischen Argumenten die als häretisch geltende Trinitätslehre des Arius zu bekämpfen. Sie glaubt, den Text datieren zu können, und zwar auf die Jahre 355 bis 358. Dies sind interessante Hypothesen, die mir bei dem Charakter des Textes unentscheidbar scheinen. Ich befasse mich lieber mit der Frage, ob Heinrich Denifle, der den Text bei seinen Studien zu Meister Eckhart entdeckt hatte, Recht damit hatte, dass er ihn ein «nichtssagendes Stück» nannte.
Die Übersetzung folgt der kritischen Ausgabe des lateinischen Textes der mittelalterlichen ‹Normalfassung›, Liber viginti quattuor philosophorum, 1997 besorgt von Françoise Hudry,[ 4 ] zu der ich durch die Entdeckung der Handschrift II 234 der Stadtbibliothek Mainz beitragen konnte. Es handelt sich um kleine Pergamentblätter, keine Prachthandschriften, keine offiziellen Universitätstexte. Diese unscheinbaren Merkzettel mittelalterlicher Leser geben zu denken.
Die erste Fassung meiner Übersetzung der vierundzwanzig Sprüche – noch ohne den alten Kommentar – ist in der Pfingstnummer der FAZ von 1997 erschienen. Sie löste damals ein lebhaftes Echo aus. Sie hat Peter Sloterdijk bei der Abfassung seiner Sphären begleitet. Der Text hat Wolfgang Rihm zu seiner gleichnamigen Komposition Quid est Deus angeregt. Das Buch der 24 Philosophen wirkt noch in die Gegenwart.
Mainz, im Herbst 2010
Kurt Flasch.
I. Einleitung:
Poetisch-rationale Theologie
1. Bilder, Metaphern
Vielleicht liest in Zukunft jemand diesen großen kleinen Text als Poesie. Er erzählt. Er fingiert eine ungewöhnliche Situation: Philosophen haben soeben ihre Diskussionen beendet und entdecken am Ende, dass sie über Gott keine gemeinsame Ansicht haben. Sie verabreden eine Denkpause. Bei einem erneuten Treffen soll jeder Philosoph mit einem einzigen Satz sagen, was Gott ist. Schon diese Szene ist romanhaft schön. Dazu fallen einige rare Metaphern ins Auge; sie sind wahre Schmuckstücke der Poesie: Gluthauch (I), Kugel (II) und Zentrum (II und X), das im Zentrum der Kugel eingekerkerte Nichts (XIV), das Licht, das sich reflektiert (XXIV) und multipliziert (XXIV). Neben fremdartigen Ausdrücken wie ‹Sichverwörtlichen› ( se verbificare ; IV) stehen einfache Bilder wie ‹Weg› (XV), ‹Fluss› (VI und XXIII), ‹Quelle› (VIII) und ‹Grenze› (X und XI). Der ‹Hauch› im Kommentar zu IV lässt wie aus der Distanz einen Anklang hören an die christliche Theologie des Heiligen Geistes. Ohne deren Kenntnis wirkt er bezugslos, ebenso wie das Wort ‹Lebensspender› ( vivificator ; XXII). Thesen und Kommentar erinnern an trinitätstheologische Bilder, stellen aber nicht selbst den Anschluss an trinitätstheologische Lehren her. Es ist, als wolle der Autor ihn vermeiden.
Einige Metaphern, besonders die von Kugel (in II, XIV und XVIII), Umfang und Zentrum, aber auch andere kehren in mehreren Thesen und Kommentarteilen des Buches wieder. Sie verbinden in der Vorstellung des Lesers die einzelnen Teile der kleinen Schrift und schaffen eine einheitliche
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