Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)
entsetzten Stadt
ließen ihn, vor seiner Stimme bang,
weitergehn mit ausgehängtem Schlagwerk
und entflohn vor seinem Zifferblatt.
Das Gedicht setzt ein: Vier Sätze, die mit «und» beginnen, beschreiben die Gottesroutine des vorgestellten mittelalterlichen Alltags. Es spricht nicht gering von den Frommen dieser Zeit. Sie hatten das Beste, das sie in sich vorfanden – Wohlwollen und Vernunft, Weisheit und Fürsorge – für ihren Gott aus sich herausgesetzt, nicht aus Gehorsam gegenüber einer Autorität. Sie hatten nicht irgendein Gottesbild übernommen; sie hatten ihn in sich erspart. Er war ihr höchstes Gut, nicht als Wunschvorstellung, sondern als reales Sein. Dass ‹Sein› Begrenzung einschließt, diese Subtilität des Liber bedachten sie nicht. Sie brauchten etwas, worauf sie bauen konnten. Den ewigen Felsen des Seins nannten sie Gott. Sie wollten etwas Positives, etwas Bleibendes. Sie verlangten nach etwas, das über ihnen stand, ihre Wertordnung sicherte und gegen Untäter rächte. Sie brauchten einen Gott mit Weltgericht und Hölle. Ihm unterwarfen sie sich gern, denn er verlieh Sicherheit. Er trennte definitiv die Bösen von den Guten.
Um die Gegenwart dieses Gottes zu garantieren, bauten sie ihm die großen Kathedralen. Als Rilke dieses Gedicht schrieb, lebte er in Paris. Notre Dame stand ihm vor Augen, aber er sah darin nur den Versuch, Gott zu binden durch Last und Masse. Sie wollten die göttliche Ordnung präsent sehen wie die gewaltigen Turmuhren späterer Jahrhunderte. Er sollte ihren Tag einteilen und ihr Tagwerk regulieren.
Doch dann das ungeheure Ereignis: Der Zusammenhang zwischen ihm und der Alltagswelt zerriss. Nicht, dass die Uhr stehen blieb. Sie schlug nicht mehr die Stunde. Nicht, dass er unsichtbar geworden wäre, nur die Beziehung verlor sich im Unendlichen. Die Menschen, zuvor im Alltagsgang der Ordnung orientiert, bekamen Angst vor Gott, falls seine Stimme ertönen würde. Von der alten Gottesfurcht wie gelähmt, flohen sie entsetzt vor dem, der ihnen Halt gegeben hatte.
Rilke beschreibt die Flucht vor Gott und den Verlust der Lebensleitung wie ein plötzliches Ereignis. Ausgelöst wurde es, indem Gott seine unbändige Natur aus allen Bindungen löste, die man ihm angetan hatte. Rilke datiert nicht dieses furchtbare Ereignis. Er sieht die Befreiung vom alten, eingefangenen Gott nicht als weltgeschichtlichen Fortschritt, nicht als Grund zur Freude. Die Menschen mussten den Übergang nehmen zwischen selbstgewollter Abhängigkeit und Richtungslosigkeit. Sie lebten von da an in der Gottesferne. Sie ließen Gott in seiner Unendlichkeit auf sich beruhen. Dieser Vorgang ist so schicksalhaft und hart, dass nicht anzunehmen ist, Rilke lasse den Gott des Mittelalters durch die Reformation zu Tode kommen. Der Vorgang ist umfassender und schrecklicher als der legendenhafte Thesenanschlag. Die Menschheit ergibt sich, konfus und erschreckt, in die Gottlosigkeit.
Das Buch der 24 Philosophen nimmt nicht Rilkes welthistorische Skizze vorweg. Aber es belegt: Die Einbindung Gottes ins Endliche war nicht alles, was mittelalterliche Denker zu sagen hatten, wenn sie gefragt wurden: Was ist Gott?
1. Auflage. 2011
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2011
Umschlaggestaltung: malsyteufel, Willich
Umschlagabbildung: Macclesfield Psalter, 14. Jh., Fitzwilliam Museum, University of Cambridge, © Bridgeman
ISBN Buch 978 3 406 60709 7
ISBN eBook 978 3 404 62102 4
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