Was können wir wissen? - Philosophische Grundfragen
wie ein Kind von einem Joggervor dem Ertrinken gerettet wird; aber ich kann nicht visuell wahrnehmen, dass dieser Rettungsakt einen Wert darstellt und deshalb Lob ebenso wie Nachahmung
verdient.
Um Werte als solche wahrnehmen zu können, müßten wir in Wahrheit von den folgenden beiden Annahmen ausgehen: 1. Werte besitzen eine
objektive Existenz.
2. Wir haben so etwas wie einen «sechsten Sinn», der uns den
Zugang
zu diesen objektiv existenten Werten – entsprechend unserem Zugang zu den Gegenständen der Außenwelt – verschafft.
Gibt es objektiv existente Werte? Eine solche Annahme erscheint wenig realistisch. Gegen sie spricht bereits die Tatsache, dass wir für viele Werturteile, die wir abgeben, nicht einmal den Anspruch erheben, dass sie von unseren Mitmenschen geteilt werden, also als Urteile über etwas objektiv Vorhandenes die nötige allgemeine Zustimmung finden: Es ist mir ganz gleichgültig, ob auch meine Mitmenschen meiner Katze oder meiner Lieblingsmusik einen Wert zuschreiben. Es besteht insoweit also überhaupt kein Anlass, für diese Werte Objektivität zu postulieren.
Doch auch für
moralische
Werte (wie die Freiheit oder die Menschenrechte), die wir als allgemeinverbindlich betrachten und universal anerkannt sehen möchten, ist eine objektive Existenz nicht nachweisbar. Denn da Werte überhaupt, wie schon gesagt, ja jedenfalls nicht Teil der empirischen, mit unseren fünf Sinnen wahrnehmbaren Welt sind, könnten sie nur Teil einer außerempirischen, metaphysischen Welt sein. Wie aber hätten wir uns eine solche metaphysische Welt der Werte bzw. der in ihr existenten, wertbehafteten Gegenstände näher vorzustellen? Würden etwa die Freiheit oder die Menschenrechte, die ja bereits ineinigen Gesellschaften durch die jeweilige staatliche Rechtsordnung gewährleistet sind, in einer metaphysischen Welt der Werte noch eine zweite, zusätzliche Form der Existenz besitzen?
Nehmen wir aber einmal an, zumindest einige dieser als allgemeinverbindlich betrachteten Werte besäßen tatsächlich eine objektive Existenz in einer eigenen Art von Realität. Dann stünden wir immer noch vor der folgenden Frage: Auf welche Weise bzw. nach welcher Methode können wir über diese Werte zu Wissen gelangen? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, sind wir bei der zweiten der beiden oben genannten Annahmen angelangt: Wir benötigen offenbar so etwas wie einen «sechsten Sinn», der uns einen verlässlichen Zugang zu dem gemäß der ersten Annahme existenten Reich der Werte verschafft.
Nun würden einige Philosophen sagen, dass wir tatsächlich einen solchen «sechsten Sinn» besitzen – einen Sinn nämlich, durch den wir auf dem Weg der
Intuition
Wissen über bestimmte, moralisch allgemeinverbindliche Werte erlangen können. Diese Philosophen würden etwa argumentieren: «Gleichgültig, wo und wie diese Werte real existieren: Wir können jedenfalls auf intuitivem Wege Werterfahrungen machen, die nicht weniger zuverlässig sind als unsere auf Wahrnehmung basierenden empirischen Erfahrungen. Auf diese Weise können wir zum Beispiel durchaus wissen, dass jeder Mensch das gleiche Menschenrecht auf Leben besitzt. Niemand kann sich diesem Wissen vernünftigerweise verschließen».
Eine ähnliche Sichtweise mag auch dem Wertverständnis nicht weniger Normalbürger entsprechen. Ist sie aber wirklichhaltbar? Um das herauszufinden, sollten wir uns fragen: Was könnten wir jemandem entgegenhalten, der es durchaus für legitim hält, etwa einen Menschen, der das Ansehen seiner Familie verletzt hat, zu töten, der also ein Menschenrecht auf Leben, wie wir es verstehen, nicht anerkennt? Ist sein Erkenntnisvermögen nicht intakt oder getrübt? Nimmt er also einen Wert nicht wahr, den wir problemlos wahrnehmen? Aber wie könnten wir ihm dies klarmachen? Vielleicht stimmt er ja sogar in vielen anderen Wertungsfragen mit uns überein. Sein angebliches Vermögen, Werte zu erkennen, kann also nicht
generell
getrübt sein.
Ist unter diesen Umständen nicht vielleicht die folgende Erklärung für den vorliegenden Dissens plausibler? Ich meine die Erklärung, dass der Betreffende statt eines defekten Urteilsvermögens eine abwegige lebenspraktische, moralische Einstellung zu einem bestimmten Sachverhalt hat – eine Einstellung, die wir anderen ablehnen und auch nicht zu dulden bereit sind. Liegt also der Unterschied zwischen seiner und unserer Bewertung anstatt in einem unterschiedlichen theoretischen
Erkennen
nicht vielmehr in
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