Was kostet die Welt
Augenarzt und einen Orthopäden. Heute musst du dafür nach Trarbach, Wittlich oder Bernkastel fahren. Oder unser Lebensmittelladen, da ist letztes Jahr die Besitzerin gestorben. Daraufhin haben die Bürger im Dorf einen wirtschaftlichen Verein gegründet, das Geschäft übernommen und eine Stelle für eine junge Frau geschaffen, die den Laden jetzt weiterführt. Sonst hätte es nämlich gar keine Einkaufsmöglichkeit mehr in Renderich gegeben. Zwanzig Minuten Auto fahren zum Arzt, das ist eine Sache. Aber zwanzig Minuten zum Brötchenholen?«
»Ja, kacke«, sage ich.
»Das hängt ja alles zusammen«, sagt Flo. »Deswegen auch all die Gästezimmer. Wer hauptberuflich Winzer ist und qualitativ guten Wein anbieten will, der braucht neben dem Stammkunden eben die Einnahmen aus der Zimmervermietung. Na, ich sag immer: Besser arm dran als Arm ab!«
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Fast jedes Thema schlieÃt Flo mit einer solchen Redewendung als Resümee ab: »Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht«, »Das Gegenteil von gut ist gut gemeint«, »Es ist nicht alles Gold, was glänzt« oder »Mein lieber Herr Gesangsverein«.
»Schuster, bleib bei deinem Leisten«, sagt er, nachdem er mir erklärt hat, warum sie hier keinen Rotwein produzieren, obwohl das seit gut zwanzig Jahren erlaubt ist.
»Ich hab noch nie einen wirklich guten Rotwein von der Mosel getrunken.«
Judith formt die Lippen zu einem spitzen O und wiegt langsam den Kopf hin und her, als wäre sie mit der Aussage nicht ganz einverstanden. Doch noch bevor sie etwas erwidern kann, sagt Flo: »Ja, ist doch so! Der Rote hier, das ist nix! Aber was noch krasser ist, seit neuestem wird sogar auf Sylt Wein angebaut. Das sollte nördlich des Rheinlands eigentlich gar nicht machbar sein. Der Klimawandel machtâs möglich. Vielleicht ist Sylt in fünfzig Jahren ja auch für seinen hervorragenden Riesling bekannt.«
Er sieht mich an und fügt hinzu: »Das warân Scherz.«
»Schon klar.«
Erschüttert von diesem Zukunftsszenario, schüttelt er den Kopf und hält einen Moment inne. Es sind die ersten Sekunden von Stille, seit wir den Keller betreten haben. Ich unterdrücke ein Gähnen. Dann fällt Flos Blick auf ein Regal mit lauter Sektflaschen, und er startet einen begeisterten Monolog über die Sektproduktion, die Flaschengärung, wie kompliziert das ist, eine richtige Kunst, und dann ist da noch die Anfang des 20. Jahrhunderts von Kaiser Wilhelm II. eingeführte Schaumweinsteuer, und dass ihr Sekt eigentlich Champagner ist, aber nicht Champagner heiÃen darf, denn nur Erzeugnisse aus der Champagne in Frankreich dürften Champagner heiÃen, und so weiter und so fort.
Mittlerweile gehen mir seine Worte zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Ich reagiere nur noch mit »Hmmm«, »Ach was«, »Soso«, »Ja«, »Nein« oder »Kacke«
und hoffe, dass meine Bemerkungen irgendwie zu dem passen, was er mir gerade erzählt.
Offensichtlich tun sie das, Flo jedenfalls plaudert munter weiter. Er scheint den Verlust meiner Aufnahmefähigkeit gar nicht zu bemerken, was mich nicht weiter wundert, da er sich ohne jedes Gespür für sein Publikum in Ausführungen hineinsteigert und in einen Rausch nach dem anderen redet. Aber Judith, diese schweigsame Gestalt mit dem wachsamen Blick, die muss doch mitbekommen, dass ich nicht so recht bei der Sache bin. Ich habe das Gefühl, dass sie mich genau im Auge hat. Während Flo sich in Details über die »Méthode champenoise« und die Gewinnung von Kohlenstoffdioxid verzettelt, sehe ich ein paarmal zu ihr rüber. Ich versuche, an ihrem Gesicht abzulesen, was sie denkt. Ãber ihn, über mich, über die ganze Situation hier. Aber immer bemerkt sie es sofort und sieht mich unverwandt an, bis ich den Blick abwende.
Was wohl gerade in ihr vorgeht?
Und gibt es hier irgendwann eigentlich auch mal was zu trinken?
Der holzvertäfelte Probierraum erinnert mich an den Hobbykeller von Tante Helena in Jena, bloà dass hier alles mit Wein zu tun hat. Die Bilder an der Wand zeigen ausschlieÃlich Weinreben, egal ob gezeichnet, gemalt oder fotografiert.
Ãber dem langen Tisch, an den wir uns setzen, hängt ein Tuch, in das ein Gedicht von Theodor Storm gestickt ist:
»Der Nebel steigt, es fällt das Laub,
Schenkt ein den Wein, den holden
Wir wollen uns den
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